Ein deutsch-russisches Datum
Die Partei DIE LINKE erinnerte in Berlin an den 22. Juni 1941
Wie doch die Zeiten sich ändern. Vorbei die Ära der »Rotbannerorden« oder der »Sterne der Völkerfreundschaft«. Im heutigen Russland ist eine andere, von Zarin Katharina II. anno domini 1769 gestiftete Auszeichnung für Tapferkeit vor dem Feind zu neuen Ehren gekommen: das Sankt-Georgs-Band.
Eine nette Geste der russischen Botschaft in Berlin sollte es sein: Jedem Teilnehmer der sonntäglichen Festveranstaltung wurde im Foyer der Volksbühne ein solches Band überreicht. »Nehmen Sie es mit nach Hause, zeigen Sie damit, dass Sie nicht vergessen werden und nicht vergessen wollen. Erzählen Sie ihren Kindern und Enkeln vom 22. Juni 1941, damit sich so ein mörderischer Krieg niemals wiederhole«, appellierte Gesine Lötzsch an die Anwesenden.
Die Ko-Vorsitzende der Linkspartei eröffnete den Reigen mehrere Erinnerungsreferate an ein Ereignis, dass »für die einen eine ferne Vergangenheit, für andere noch schmerzlich nah ist«. Erinnerung an den »grausamsten Krieg der Weltgeschichte«, in dem unzählige Menschenleben ausgelöscht und unwiederbringliche Kulturgüter zerstört wurden, »um deutschen Lebensraum bis zum Ural auszuweiten«. Gesine Lötzsch nannte den 22. Juni 1941 auch und gerade eines der wichtigsten Daten der deutschen Geschichte; dieser Tag habe Deutschland, Europa und die Welt verändert.
Die Linkspolitikerin polemisierte gegen die Mär, der »russische Winter« und Hitlers Inkompetenz als Feldherr hätten die deutsche Niederlage 1945 besiegelt, »nein, es war der Freiheitswille der Völker der Sowjetunion«. Dies sei bisher von keiner Bundesregierung gewürdigt worden. Das unvorstellbare und unermessliche Leid, das Deutschland über die Völker der Sowjetunion vor 70 Jahren gebracht hatte, begründe eine besondere Verantwortung gegenüber deren Nachfolgestaaten, sagte Gesine Lötzsch in Anwesenheit von deren diplomatischen Vertretern. Sie erinnerte an den Antrag ihrer Fraktion vor Jahr und Tag, den 8. Mai in Deutschland zum gesetzlichen Feiertag zu erklären – worauf es eine unselige Debatte im Bundestag gegeben habe. Mit dem Ergebnis, dass dieser Vorschlag in die Ausschüsse verwiesen wurde, wo er noch immer liege.
Äuch der russische Botschafter Wladimir M. Grinin meinte, dass dem 22. Juni 1941 in der Chronik der deutsch-russischen Beziehungen ein besonderer Platz gebühre, als jener Tag, »an dem der blutigste Krieg der Menschheit begann und zugleich das Ende der Nazibarbarei eingeläutet wurde«. Der Sieg am 8. Mai 1945 sei nicht lediglich Triumph einer Kriegskoalition über eine andere, sondern ein Sieg des Lebens über den Tod, der Freiheit über die Knechtschaft gewesen.
Grinin gedachte auch der deutschen Antifaschisten, die sich gegen das menschenverachtende Nazi-Regime aufgelehnt haben, im Untergrund in Deutschland oder an der Seite der Sowjetarmee. »Wir verneigen uns vor den Opfern in den KZ, den ermordeten Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern.«
Mühsam sei der Weg der Versöhnung gewesen, sagte der russische Botschafter und würdigte explizit den Anteil, den die DDR daran hatte. »Heute reden wir von strategischer Partnerschaft und blicken nach vorn. Aber ein Rückblick lohnt sich immer«, mahnte Grinin und tat seinen Unmut darüber kund, dass in jüngsten Darstellungen Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern umgeschrieben sowie Befreier zu Besatzern und Kollaborateure zu Freiheitskämpfern umgedeutet würden.
Auch Hans Coppi, Vorsitzender der Berliner VVN-BdA, erinnerte an deutsche Hitlergegner, so an Ilse Stöbe und Rudolf von Scheliha. die im Auswärtigen Amt antifaschistische Widerstandsarbeit geleistet haben, sowie an die 50 ermordeten Mitglieder der sogenannten »Roten Kapelle«, »die keine Kundschaftergruppe, sondern ein breites antifaschistisches Aktionsbündnis war, das mittels Flugblättern Aufklärung in Deutschland betrieb, Juden versteckte und Zwangarbeitern half und darüber hinaus die Sowjetunion mit militärisch wichtigen Informationen belieferte«.
Um die Tragödie dieser 1942/43 hingerichteten Antifaschisten aufzuklären, forderte Coppi (dessen Eltern damals ebenfalls auf dem Schafott starben), den Zugang zu den Archiven russischer Nachrichtendienste. Denn: Den Antifaschisten seien vor allem ungenügend verschlüsselte Funksprüche sowjetischerseits zum Verhängnis geworden. Der Historiker zitierte Harro Schulze-Boysen, der in Gestapohaft und angesichts des Todes notiert hatte: »Der Stunde Ernst will fragen: Hat es sich gelohnt? An dir ist es nun zu sagen: Doch es war die rechte Front.«
Warum die deutsche Öffentlichkeit mit dem vor 70 Jahren begonnenen vertrags- und völkerrechtswidrigen Vernichtungs- und Aggressionskrieg nach wie vor Probleme hat, fragte sich Gregor Gysi. Er kritisierte scharf die »Spiegel«-Aufmachung von vergangener Woche (»Hitler gegen Stalin. Bruder – Todfeind. Das Duell der Jahrhundertverbrecher«) als »unprofessionell« und ahistorisch. Gysi verwies auf den hohen Preis, den die Völker der Sowjetunion auch zur Befreiung der Deutschen geleistet haben: 27 Millionen Tote, Kommissare, Juden, Zivilisten, Rotarmisten. »Ohne den Sieg der Sowjetarmee hätte auch der Holocaust nicht gestoppt werden können«, betonte er. Den Beitrag der anderen Staaten der Antihitlerkoalition wolle er nicht schmälern, dennoch: »Die Wende im Zweiten Weltkrieg brachte die Schlacht um Stalingrad.« Und nicht erst der D-Day von 1944 in der Normandie.
Während des gediegenen künstlerischen Begleitprogramms wurde auch Jewgeni Jewtuschenkos berühmte Frage rezitiert: »Meinst Du, die Russen wollen Krieg?« – ein Antikriegsgedicht, das an deutschen Schulen nicht (mehr) gelehrt wird. Warum eigentlich nicht?
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