Das subversive Potenzial der Kunst
Dem Komponisten Hans Werner Henze zum 85. Geburtstag
Der Ehrungen gibt es viele. Neue wie ältere Henze-Stücke werden gespielt, in Deutschland, Europa, in der Welt: Kompositionen für Konzert, Oper, die Kammer, nicht zuletzt Gebrauchsmusik für Schulen, für Kino, Fernsehen und Hörspiel. Immer galt und gilt Henzes Augenmerk speziellen Orchestern, Ensembles, Instrumentalisten, Sängern, Tänzern. Die Orchestermusik »Antifonie« mit ihrer wild geformten, ausdrucksstarken Doppelchörigkeit kam 1962 mit den Berliner Philharmonikern unter Karajan und wurde »regelmäßig ausgebuht«, wie Henze in seiner Selbstbiografie »Reiselieder mit böhmischen Quinten« (S. Fischer Verlag 1996) schreibt. Das Werk wurde abermals 1969 in der Komischen Oper aufgeführt, Henze stand am Pult, im Saal innerliche Bewegung.
Andererseits haben auch große Geister vor seiner Musik entweder das Fürchten gelernt oder sind vor ihr ausgebüchst. Reiner Bredemeyer, der bedeutende Tonsetzer, mochte Henze gar nicht. Er konnte das nicht begründen, wollte es nicht, aber er blieb dabei. Vielleicht fand er ihn zu weich, zu zärtlich, zu warm. Gerade diese Eigenschaften zeichneten Henzes Oper »Elegie für junge Liebende« aus. Luigi Nono indes soll, so geht das Gerücht, aus irgend einer Premiere dieser »Elegie« rausgelaufen sein, und später bei einem Lunch soll er auf die Frage: Warum? mit einem Anfall von Jähzorn reagiert haben. Nun, das sind Schnurren, allerdings hintergründige.
Für den großen, heute fast vergessenen englischen Tenor Peter Pears schrieb Henze schon früh die »Kammermusik 1958«, er widmete sie Benjamin Britten, die beiden waren eng befreundet. Mit dieser Musik kam in der DDR wohl die erste Henze-Platte auf dem Markt. Jungen Stürmern und Drängern missfiel sie. »Romantik«, tönte es aus dem Seminar.
Hans Werner Henze hielt freundschaftlichen Kontakt zu Paul Dessau – eine künstlerische und politische Freundschaft. Beide schrieben mit Boris Blacher, Karl Amadeus Hartmann, und Rudolf Wagner-Regeny an der Kollektivarbeit »Jüdische Chronik« mit. Ein stupendes, jäh die Mittel spreizendes und verengendes Werk, das auf den westdeutschen Antisemitismus um 1960 anklägerische Kommentare abgab. Wann wurde es letztmalig gespielt?
Henze komponierte fünfzehn Opern, »Die Bassariden«, »Prinz von Homburg«, »Elegie für junge Liebende«, »Die englische Katze«, »Phaedra« usf. – und man weiß nie, ob eben eine neue fertig würde. Kurzum: Der seit 1953 in Italien lebende Komponist hält die ernstzunehmende Musikwelt nach wie vor in Atem. Sein immenses Werk macht ungebrochen staunen.
Die enorme Vielseitigkeit des Meisters, auch seine Vielstilistik wohnen in beinahe jedem seiner Werke. Henze ging stoisch seinen künstlerischen, politischen Weg, trotzte jeglichen Anfeindungen und Widerständen, und derer gab es manche. Die übelste Geschichte ist wohl, wie die Hamburger Uraufführung des Oratoriums »Das Floß der Medusa« 1968 zu Fall gebracht wurde. Nicht durch die Polizei, die knüppelte, wie ewig nachgebetet wird, sondern durch die Intendanz des NDR, die sie holte. Herbert Kegel dirigierte das schwierig aufzuführende Werk sieben Jahre später problemlos in Leipzig. Dem Text-Bild-Band »Hans Werner Henze – Komponist der Gegenwart (Henschel 2006) gelingt es grandios, in die Welt dieses Künstlers einzuführen. Das heute schon nur noch antiquarisch erhältliche Buch gibt so viel Wirklichkeit heraus, dass der Leser Henzes ungeteilten Glauben an das subversive Potenzial der Kunst wirklich annehmen und kritisch prüfen kann: seine Hoffnung, die Menschen dürften nicht erst in der Ferne eine ungleich bessere Welt erleben als die jetzige. Viele Personen sprechen darin, schauen aus Bildern, Henze selbst aus den abgedruckten Noten heraus und aus einem späten Text über die 1966 komponierte Oper »Die Bassariden«. Der Text behandelt das Problem der vergessenen oder übersehenen »Zeit«, einer bis ins Universum reichenden philosophischen Zeit. Er ist kurz, aber durchsättigt mit Lebenserfahrung, voller Weisheit, auch Erschrecken und Entsetzen.
Über Aufführungen von Henze-Musik sprechen in dem Band Dirigenten, auf Du und Du mit dem hoch verehrten Komponisten. Markus Stenz, dem die Erarbeitung der »Elegie für junge Liebende«, der Chorszenen aus den »Bassariden« oder der 7. Sinfonie zur unverlierbaren Erinnerung geworden ist, redet in besonders prägnanten Worten. Kurt Masur akzentuiert wie Ingo Metzmacher die Aufführung von Henzes 9. Sinfonie auf Worte aus Anna Seghers »Das siebte Kreuz«. Metzmacher im inneren Dialog mit Henze: »Ich las Anna Seghers und war gebannt. Ich verstand so gut deine Wut und deine Anklage gegen dieses Land, in dem ich auch geboren bin und dessen Musik wir beide so sehr lieben.«
Einzigartig der Bildteil: Da sieht man Henze und René Leibowitz (sein wichtigster Kompositionslehrer), Henze und Ingeborg Bachmann (publiziert wurde beider Briefwechsel), von der das wunderbare Gedicht »Die blaue Stunde« abgedruckt ist, Henze mit Luigi Nono, Karl Amadeus Hartmann, Paul Dessau, Ingo Metzmacher, Paul Sacher, auch mit Sir Simon Rattle. Hinten ein kleines Lichtbild: »Wahlparty für Willy Brandt« 1965, mit Grass, Wicki, Kortner, Hans Clarin, Karl Schiller, Agnes Fink, Ingeborg Bachmann.
Kleinlichste Verschwiegenheit über den Komplex Henze und die DDR. Bis zum heutigen Tag blendet die bundesdeutsche Henze-Würdigung dieses Thema aus. Wohl wissend oder nichts wissend um die regelmäßigen Besuche des Meisters in den DDR-Kulturzentren und den verhältnismäßig häufigen Umgang mit dessen Werk. Henze, um nur wenige Fakten zu nennen, besuchte die Weltfestspiele 1973 in Berlin, er arbeitete am Berliner Ensemble und anderswo mit Ruth Berghaus, Dessau, Nono und anderen, erinnert sei an die »Mannesmann«-Kantate. Henzes »Das Floß der Medusa« kam, wie erwähnt, unter Herbert Kegel in Leipzig. »El Cimarron« in Rostock, Halle, Berlin usw. Denkwürdig die »Voices«-Aufführung in Leipzig.
Henze war zumeist anwesend, wenn größere Sachen von ihm gespielt wurden, und wurde gefeiert. Es gibt über jedes Ereignis diverse Fotos, auch Filme, Kommentare, Kritiken etc. Nicht zu vergessen: Henze als Dirigent, in Dresden, Leipzig, Berlin (DDR). Eine beachtliche Bilanz.
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