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Beider letzte Nacht
Im Kleist-Jahr: Tanja Langers Erzählung
So, wie Tanja Langer sie skizziert, könnte sie gewesen sein: die letzte Nacht von Henriette Vogel und Heinrich von Kleist, die dem 21. November 1811 vorausging, als der 34-jährige Dichter am kleinen Wannsee seine Begleiterin und dann sich selbst erschoss. Sie war krank am Körper, er krank an der Seele. Auch wenn Kleist heute von der germanistischen Forschung inzwischen zu Recht als Kafka der Goethe-Zeit apostrophiert wird, war seine eigene Wahrnehmung eine völlig andere: Er sah sich in allem, was er im Leben versuchte und in der Literatur leistete, als gescheitert. »Heinrich«, so Tanja Langer, sah alles von vielen Seiten. Er stand zu allen quer.«
»Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war.« Diese berühmt gewordenen Worte schrieb Heinrich von Kleist am Morgen seines Todes an die Stiefschwester Ulrike in Frankfurt (Oder). Der Kleist-Biograf Peter Michalzik berichtet, dass Kleist, seit er den Entschluss zum Suizid gefasst hatte, den Freunden gelöst, ja geradezu glücklich erschien. Skrupel vor dem letzten Schritt hatte jedoch die 31-jährige Henriette, die einen Mann und eine Tochter zurückließ.
Tanja Langers Geschichte über Heinrich und Henriette folgt dem biografischen Wissen, das sich die Nachwelt – dank eines ausführlichen Polizeiberichts – von den letzten Stunden beider machen kann. Die Erzählung ist klug komponiert, ein echtes literarisches Kabinettstück. Einmal im Sog dieser Geschichte, kann man sich nicht entziehen. Und hegt doch die irrige Hoffnung, das Unvermeidliche möge nicht geschehen.
Der Leser wird vor allem Zeuge der Gespräche zwischen den Protagonisten, die mehr verbindet als nur der Wunsch aus dem Leben zu scheiden. Einmal in dieser Nacht kommen sie sich so nahe wie zwei Menschen, die die Liebe zueinander gerade entdecken. Mal geben sie sich angesichts des bevorstehenden Endes ängstlich, mal sind sie unbeschwert wie Kinder. Mehrfach berichtet Kleist von seiner Gefangenschaft in Fort de Joux. Dort, im französischen Jura, lernte er den haitianischen Freiheitskämpfer Emile Liberté kennen.
Im Gasthaus Stimming haben Heinrich und Henriette, den Moralvorstellungen der Zeit folgend, getrennte Zimmer bezogen. Die suchen sie – trotz des Wunsches, die letzte Nacht gemeinsam zu verbringen – immer wieder einmal auf, so dass Zeit bleibt, ihr Leben als Gedankenrede vorüberziehen zu lassen. Und als verbindendes Element schaltet sich die Erzählerin oft in das Geschehen ein.
Die Idee zum Text kam Tanja Langer, weil sie in der Nähe des Sterbeortes beider lebt. Um genau zu sein, sind es, so Langer, »eintausenddreihundertzwölf Schritte von mir bis zu der Stelle«, wo Kleists und Vogels irdisches Leben endete und ihr literarisches begann.
Tanja Langer: Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit. Die letzte Nacht von Henriette Vogel und Heinrich von Kleist. dtv. 232 S., brosch., 9,90 €€.
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