Du schaffst das auch!
Migranten engagieren sich in einem Freiwilligendienst für andere Einwandererkinder
Es hat geklappt. »Ich bin stolz auf euch!«, ruft Maria ihren Mädchen zu. Später ergänzt sie: Ich bin auch stolz auf mich. Der Grund ist eine dreiminütige Choreografie, die sie mit ihrer Gruppe gerade zum ersten Mal durchgetanzt hat. Vor drei Monaten, als die 23-Jährige mit ihrer Arbeit als Leiterin des Tanzkurses an der Silberstein-Grundschule in Berlin-Neukölln begann, war das noch undenkbar.
Maria kommt aus Russland, als Neunjährige zog sie mit ihren Eltern hierher. Ohne ein Wort Deutsch zu sprechen und ohne Hilfe musste sie sich in der Schule zurecht finden. Heute engagiert sie sich in dem Projekt »JuMiLo – Junge Migranten als Lotsen: Freiwilligendienste im Jugendmigrationsdienst«. Das Projekt wird vom Bundesfamilienministerium und aus Mitteln des Europäischen Integrationsfonds gefördert. Es soll junge Menschen mit Migrationshintergrund motivieren, sich mit ihren Fähigkeiten in die Gesellschaft einzubringen. Sie sollen vorwiegend andere Migrantenkinder unterstützen – etwa mit Nachhilfe, Freizeitangeboten oder Bewerbungstrainings. Selbstvertrauen und Anerkennung soll das bringen.
Was in dem glänzenden Faltblatt abstrakt klingt, lässt sich bei einem Besuch von JuMiLo in Berlin hautnah beobachten. Die Hauptstadt ist einer der 15 bundesweiten Standorte, an denen das Konzept seit 2009 erprobt wird.
Unter dem dezenten Rouge beginnen Marias Wangen zu leuchten. »Es tut gut zu sehen, dass ich etwas auf die Beine stellen kann – und so gelobt zu werden, schmeichelt mir.« Gemeinsam mit den Sozialarbeitern der Schule und mit Maia Tsimakuridze, die JuMiLo in Berlin leitet, sitzt sie nach der Probe an einem niedrigen Holztisch. An den Wänden hängen bunte Zeichnungen, in der Luft noch die lobenden Worte über Maria.
Die 16 Mädchen im Alter von sieben bis zehn Jahren, die sie betreut, waren noch vor Kurzem unkonzentriert und oft überdreht. »Viele unserer Schüler haben Probleme sich zu strukturieren«, erklärt Sozialarbeiter Mattias Hoffmann. Über 90 Prozent haben einen Migrationshintergrund, Dreiviertel der Eltern erhalten Transferleistungen, »manche stehen morgens nicht mal auf«. Darum sei es ungewöhnlich, dass die Schülerinnen so lange durchgehalten haben und einmal pro Woche nach dem Unterricht freiwillig zu Maria kommen.
Maria ist ein Vorbild. Sie leitet ihre Schützlinge geduldig, aber bestimmt. Auch Valentina, die als Problemkind galt, hat die Abläufe des orientalischen Bauchtanzes heute gemeinsam mit allen anderen gemeistert. Als Valentina in die Schule kam, verkroch sie sich wochenlang unter dem Tisch. Ihre Mutter ist Analphabetin, der Vater existiert nicht. Sie länger für etwas zu begeistern, war schwierig. Doch die Freude, die Maria ausstrahlt, während sie grazil die Hände zur Musik bewegt, steckt die Mädchen an. So etwas zu bewirken, hatte sie sich nicht träumen lassen, als sie nach Deutschland kam. »Damals hätte ich mir auch einen Lotsen gewünscht, der mir Möglichkeiten zeigt, wo ich mich einbringen und Leute kennenlernen kann.«
Die Lotsen wissen was an der Seele nagt
Eine Grundidee von JuMiLo besteht darin, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund besser in die Situation von anderen Migranten hinein versetzen können. »Man reagiert sensibler«, findet Maria. »Und für die Kinder ist es leichter, weil sie wissen, dass du bestimmte Dinge selbst durchgemacht hast.« Nur so kann man wissen, wie manche Situationen an der Seele nagen, ergänzt sie ohne Bitterkeit. Doch man merkt, dass sie weiß wovon sie redet.
Adrian sieht das anders. Dass sich JuMiLo vor allem an Drittstaatler richtet, die andere Drittstaaten-Kinder fördern sollen, findet er »totalen Unsinn«. Dem 22-Jährigen sieht man seinen Migrationshintergrund nicht an. Sein Vater ist Brasilianer, doch Adrian hat blaue Augen und blonde Haare, die ihm in dicken Rastas vom Kopf hängen. Aufgewachsen ist er in Deutschland. Der Student leitet die Fußballgruppe an der Silberstein-Grundschule, sitzt schwitzend in kurzen Hosen im Hof am Rand der Spielfeldanlage. »Wenn man Leute integrieren will, braucht man gemischte Gruppen«, argumentiert er. »Sonst sind Ausländer wieder nur unter sich.«
Man kann darüber streiten, ob Migranten einen eigenen Freiwilligendienst brauchen. JuMiLo basiert zumindest auf der Beobachtung, dass »junge Menschen mit Migrationshintergrund in der Freiwilligenarbeit in Deutschland bisher stark unterrepräsentiert« sind, wie es auf der Webseite engagiert-was-sonst.de heißt.
Die Hemmschwelle ist hoch, das Selbstbewußtsein niedrig. Vielen fehlt das Gespür für eigene Talente. »Sie sind sich gar nicht bewusst, dass sie gute Taten tun«, meint Leiterin Maia Tsimakuridze. »Im Stillen geschieht viel Ehrenamt, das muss sichtbar gemacht werden.« In Migrantenfamilien übernehmen Jugendliche viel Verantwortung, erklärt sie. Weil die Eltern oft schlecht Deutsch können, gehen sie mit ihnen zu Behörden und übersetzen, älteren Nachbarn helfen sie bei Erledigungen und der Cousine mit Nachhilfe.
Auch Lotsin Maria weiß: »Viele denken: Ich habe selbst genug Probleme, was soll ich anderen schon geben können?« Dabei gibt es ungezählte Möglichkeiten, vom Hip-Hop-Kurs bis zum Bastelnachmittag.
Im Team von JuMiLo Berlin arbeiten derzeit 15 Lotsen. Vor einem Jahr waren es noch sieben. Es sind Studenten und Schüler zwischen 16 und 31 Jahren, obwohl der Freiwilligendienst eigentlich nur für 12- bis 27-Jährige angeboten wird. Doch das sieht Maia Tsimakuridze nicht so eng. Ihre Freiwilligen bieten neben den Kursen an der Silberstein-Grundschule Schach und ABC-Gruppen an, Tischtennis und ein Fotoworkshop sind in Planung. Die Lotsen bekommen regelmäßige Fortbildungen und am Ende ein Zertifikat, das ihnen bei Bewerbungen nützlich sein kann.
Im Hauptquartier von JuMiLo Berlin wird zweimal pro Woche Nachhilfe gegeben. In der Erdgeschosswohnung steht ein langer Tisch, an dem sich Schüler und Lotsen über Rechenaufgaben beugen. Der Peruanerin Gabriela strecken sich zwei dunkle Kinderfäuste entgegen, deren Finger nach und nach aufklappen. »Fünf, Sechs, Sieben ... Siebzehn!« zählt ihr Schützling Lara. Eifrig schreibt sie die Lösung in ihr Zweitklässler-Heft. »Du musst dich daran gewöhnen ohne Finger zu rechnen«, entgegnet die 23-jährige Gabriela. »Das kannst du.«
Ich habe etwas erreicht als Ausländerin
Hinter den drei kleinen Wörtern steckt viel: Gabrielas eigene Anstrengung Deutsch zu lernen, um hier zu studieren. Der Schreck über die Integrationsdebatte, die so viel Hoffnungslosigkeit verbreitete. Lara hat es nicht gehört, doch es ging gar nicht um ihre Finger. Was Gabriela eigentlich sagen wollte, fasst sie später im Nebenraum in Worte: »Ich habe etwas erreicht als Ausländerin, ich habe ein Studium abgeschlossen und einen Arbeitsplatz gefunden. Wenn ich das kann, schaffst du das auch.«
Ende 2011 läuft die Projektfinanzierung für JuMiLo aus. Eine Verlängerung wird es nicht geben, erzählt eine Mitarbeiterin des Jugendmigrationsdienstes. Die Gelder werden anderweitig benötigt, hieß es im Familienministerium. Womöglich könnten die Projekte durch Kooperationen auf kommunaler Ebene oder durch Stiftungsgelder fortgesetzt werden. Die Bosch-Stiftung habe bereits in Aussicht gestellt JuMiLo-Standorte, die sich darum bewerben, jeweils mit bis zu 5000 Euro zu fördern, damit die Freiwilligen ihre Arbeit noch zwei Jahre fortsetzen können. Personalkosten dürfen damit allerdings nicht abgedeckt werden.
Maia Tsimakuridzes Hoffnung ist das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge, auch dort will sie Gelder beantragen. »Wir wollen auf jeden Fall diese schöne Idee und die gute Arbeit der Lotsen weiter fördern«, sagt sie. »Gerade gewinnen wir richtig an Tempo. Ich habe das Gefühl, eigentlich kann man das nicht mehr bremsen.«
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