Totale Öffentlichkeit
Jürgen Amendt über Heiner Geißler, ein Rundfunkinterview und den »totalen Krieg«
In unserer Berliner Hausgemeinschaft lebt ein lesbisches Paar. Vor zwei Jahren war eine der Frauen mit dem zweiten Kind schwanger, und die beiden grübelten im Hof bei Kaffee und Kuchen mit Freundinnen darüber, welchen Namen das Kind in dem Fall erhalten sollte, wenn es ein Junge würde. Ich kam dazu, schlug spontan »Adolf« vor. Das sei ein alter, schöner Name, der leider von einem Österreicher in Misskredit gebracht worden sei. Ich meinte das halb im Spaß, halb ernst, denn die Vorstellung, dass das Kind von deutschen, dem linken Milieu zugehörigen Lesben Adolf heißen würde, hatte etwas Verführerisches. Die beiden werdenden Mütter und ihre Freundinnen fanden den Vorschlag dagegen nur belustigend. Der Vorname »Adolf« wird wohl auf lange Zeit nicht mehr in Geburtsurkunden hierzulande auftauchen.
Die Schrecken des Nationalsozialismus lassen uns nicht los, sie verfolgen uns bis heute. Mag die Gefahr einer realen Wiederkehr noch so gering sein, die Reflexe der symbolischen Abwehr des Bösen funktionieren noch. Was im privaten Raum allenfalls für Erheiterung sorgt, da das Aussprechen des Unaussprechlichen im kleinen Kreis folgenlos bleibt, wird im öffentlichen Raum oft allzu schnell mit der Moralkeule erledigt.
Das hat gute, nachvollziehbare Gründe. Denn anders als im Privaten entwickelt das Gesagte außerhalb davon ein Eigenleben, ist Interpretationen, Fehlverständnissen, Umdeutungen anderer ausgesetzt. Und es ist damit zu rechnen, dass Gefühle von Menschen verletzt werden, die man nicht verletzen möchte. Wer würde schon öffentlich via Medien werdenden deutschen jüdischen Eltern den Vorschlag machen, sie sollten ihren männlichen Nachkommen Adolf nennen und sich bitteschön nicht davon beirren lassen, dass dieser Vorname mit einem Makel behaftet ist?
Das öffentliche Feld ist vermint; man muss schon im Privaten bleiben, um seine Gedanken unbeschwert von der Last der politischen Moral äußern zu können. In Zeiten von Internet, Twitter und Handy-Kameras bleibt letztlich für das Private ein immer kleiner werdender (Schutz-)Raum. Wir befinden uns im Zeitalter der »totalen Öffentlichkeit«. Dass Politiker oder andere Menschen in der Öffentlichkeit nicht unbedacht oder aus Versehen etwas Falsches am falschen Ort vor den falschen Leuten sagen, darüber wachen die Tugendwächter in den Medien – und immer mehr auch das Heer der Blogger und Chat-Kommentatoren in der virtuellen Sphäre des World Wide Web.
Diese Erfahrung musste dieser Tage Heiner Geißler machen, der einstige große Provokateur der CDU. In den letzten Jahren wandelte sich der 81-Jährige zum altersmilden Kompromiss-Suchenden. Als Schlichter soll er zwischen Befürwortern und Gegnern einer Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs vermitteln. Weil es bei den Gesprächen zwischen den Kontrahenten vor wenigen Tagen alles andere als friedlich zuging und vor allem die Gegner eines Tiefbahnhofs so gar nicht kompromissbereit waren, raunzte Geißler diese an: »Wollt ihr den totalen Krieg?« Wie es heißt, soll sich daraufhin niemand in der Runde ernsthaft echauffiert haben.
Die moralische Empörung artikulierten im Nachklang der Ereignisse einige Medienvertreter. Er habe eine Formulierung benutzt, die »kontaminiert« sei (Berliner »Tagesspiegel«). Nur wenige wiesen wie die FAZ auf den Umstand hin, dass Geißler die Frage »Wollt ihr den totalen Krieg?« als Mahnung zum Frieden und nicht wie NS-Propagandaminister Goebbels in seiner Rede im Berliner Sportpalast vom Februar 1943 als Durchhalteparole, als Appell zur Verschärfung des Krieges verstanden haben wollte.
Vielerorts war jetzt die Rede von einem »verbalen Patzer« (»Welt«) oder von einer »Entgleisung im Stuttgart-21-Streit« (»Sächsische Zeitung«). Dabei ist die Formulierung Geißlers in ihrer Intention eindeutig. Laut »Spiegel« hat der CDU-Politiker wörtlich das gesagt: »Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr den totalen Sieg? Das kann man auch machen. Also wollt ihr die totale Konfrontation?« Hätte Geißler das kleine Wörtchen »total« weggelassen, kein Radio-Moderator, kein Zeitungskommentator hätte von dem gezielten Wutausbruch des Politikers überhaupt Kenntnis genommen.
Stuttgart ist nicht Berlin und ein Runder Tisch in Schwaben kein Sportpalast in der Reichshauptstadt, also darf Geißler auch nicht »den Goebbels machen«. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk musste Geißler sich für seine Wortwahl erklären; zuerst rechtfertigte er sich, später, Stunden nach dem Interview, entschuldigte er sich zumindest halbherzig für »diese Zuspitzung«, verteidigte diese aber auch als notwendig, um in der Sache gehört zu werden.
Geißler wurde letztlich Opfer seines eigenen Gesinnungswandels. Der alte Mann der CDU hatte wie kaum ein anderer seiner Generation erkannt, dass die Zeit der Hinterzimmerpolitik, der Verhandlungen unter Ausschluss der Bürger vorbei ist. Die von ihm geleiteten Schlichtungsgespräche zu Stuttgart 21 wurden vom Fernsehsender Phoenix live übertragen – mit Rekordquoten. Geißler stellte die Notwendigkeit der Transparenz in Zeiten von Twitter, Weblogs und Facebook heraus.
Gerade durch diese drei Medien verändert sich das politische Kommunikationssystem nachhaltig. Das wurde 2009 bei der Wiederwahl Horst Köhlers zum Bundespräsidenten deutlich. Noch bevor das Ergebnis dem Plenum bekanntgegeben worden war, hatten einzelne Wahlfrauen und -männer das Abstimmungsergebnis per Twitter der Welt draußen mitgeteilt. Die Politiker waren auf einmal zu Objekten in der öffentlichen Kommunikation geworden.
Während der Schlichtungsgespräche in den vergangenen Monaten zu Stuttgart 21 erinnerte Geißler die Kontrahenten daran, dass das, was sie sagen, von einem großen Publikum beobachtet werde, sie also auf ihre Wortwahl achtgeben sollten. Jetzt muss er damit zurechtkommen, dass auch er zum Objekt dieser »totalen Öffentlichkeit« wurde.
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