- Kultur
- 50 Jahre Mauerbau
Eine Idee, die schwer zu realisieren ist
Hans-Joachim Maaz über die seelische Wirkung des Mauerbaus und Möglichkeiten, Mauern zu überwinden
ND: Welche psychologischen Strukturen stecken Ihrer Meinung nach hinter dem Mauerbau?
Maaz: Da gibt es die Idee für eine Gesellschaftsordnung, und man stellt fest, dass sie schwer zu realisieren ist – das verunsichert und macht Angst. Mit dem Sozialismus war die Vorstellung von einem besseren Leben, von Frieden und Mitmenschlichkeit verbunden. Ein Leitbild, das aus verborgenen seelischen Bedürfnissen gespeist wurde. Und dann hat man gemerkt, dass die Verwirklichung nicht so einfach ist, wie man dachte.
Inwieweit wirkte die NS-Zeit auf die damalige Situation?
Einengung geschieht zuallererst in der Familie. Bei autoritärer Erziehung, die in vielen Familien eine Rolle spielte, werden die Heranwachsenden in einer Weise geprägt, die sie anfällig macht für autoritäre Gesellschaftsstrukturen. Der Nationalsozialismus ist nicht einfach über uns gekommen, sondern die herangewachsenen Menschen lebten in einer seelischen Situation, die autoritäre Strukturen, Feindbilddenken, einen Sündenbock gebraucht hat. Die Mehrheit der Bevölkerung war dafür bereit. Sie trugen aufgestaute Aggressionen und Hass in sich, hatten beides erlebt, weil sie selbst schlecht behandelt wurden. Und jetzt richten sie ihre berechtigte Aggression, nicht gegen die Eltern, Lehrer oder Erzieher, sondern beispielsweise auf die Juden. Der Hass wird auf etwas projiziert, das gesellschaftlich angeboten wird.
Die Menschen waren also reif für den Mauerbau ?
Die, die sie gebaut haben, schon.
Und diejenigen, die damit plötzlich konfrontiert waren?
Diese natürlich nicht so sehr, für die war es eine Einengung. Es war wie gefangen genommen werden, viele individuelle Möglichkeiten wurden abgeschnitten. Das war für viele frustrierend. Sekundär hatte es auch einen »Vorteil«.
Welchen?
Es sah aus, als sei die Mauer für die Ewigkeit gebaut, also richteten sich die Menschen damit ein. Das erbrachte, was wir auch wertgeschätzt haben und was jetzt verloren gegangen ist: die Nachbarschaftshilfe, dass man privater zusammengekommen ist, als das heute der Fall ist. Denn kann man nicht nach außen expandieren, muss man mit den Möglichkeiten, die man hat, zurechtkommen und etwas daraus machen.
Was für mentale und emotionale Auswirkungen hatte die Mauer?
Ich bin eingeengt, ich muss mich anpassen und unterordnen. Die eigenen Entwicklungen wurden eingeschüchtert. Das ist real schlecht, aber auch für die Fantasie. Viele Menschen würden gar nicht alle Möglichkeiten dieser Welt in Anspruch nehmen, aber der Gedanke, dass es möglich wäre, ist wichtig, um sich frei zu fühlen. Dann kommt der autoritäre Charakter hinzu. Wir wurden nicht gefragt, es ist uns auferlegt worden. Das löste Empörung und Protest aus, doch wir konnten ihn nicht austragen, und das hinterlässt ein beklemmendes Gefühl. Ich glaube, das war der Anfang vom Untergang der DDR. Damit waren die Menschen verloren. Dieses Gefühl der Kränkung und Einengung hat die Lust am Sozialismus genommen.
Sie sprechen in Ihrem Buch »Der Gefühlsstau« davon, dass das DDR-Regime gehemmte und zwanghafte Charaktere hervorbrachte. Gehen Sie nicht zu weit, wenn Sie allen DDR-Bürgern diese Symptome zuschreiben?
Das tue ich nicht. »Der Gefühlsstau« ist ein essayistischer Versuch, bestimmte Zusammenhänge verständlich zu machen. Ich wollte die Wirkung autoritärer Strukturen auf den Menschen darzustellen. Diese führen zu Einschüchterung, zu Hemmung, zu Unterordnung oder Mitläufertum. Damit ist das einzelne Leben nicht beschrieben. Das war auch in der DDR bunt. Es gab Menschen, die sich nicht einschüchtern und unterdrücken ließen. Es gab Familien, in denen es nicht autoritär zuging. Ich habe Tendenzen beschrieben.
Die Mauer hat sicherlich eine eigene Qualität. Aber Repression findet sich auch im Westen. Vielleicht in allen Gesellschaften auf die eine oder andere Weise?
Natürlich gibt es in jeder Gesellschaft Repressionen. Die Frage ist, wie sie geschieht und welche Ausweichmöglichkeiten es gibt. In meinen späteren Schriften habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass die westliche Einengung in der seelischen Wirkung durchaus vergleichbar ist, aber eine ganz andere Funktion hat. Die Leistungs- und Wachstumsgesellschaft nötigt dazu, sich zu behaupten. Der Druck, sich in einer bestimmten Weise zu entwickeln, ist vergleichbar. Um es provokativ auszudrücken: Die DDR hat bevorzugt den Untertan erzogen, der Westen den Obertan – Menschen, die immer genötigt sind, gute Leistungen zu bringen, sich gut darzustellen, sich gut zu verkaufen. Die Prinzipien lassen sich vergleichen, die Formen und Auswirkungen sind verschieden.
Sie messen psychische Deformationen an einem gesunden Zustand. Was bedeutet Gesundheit?
Für mich ist wichtig, ob und woran ein Mensch leidet. Wie determiniert sich der Leidenszustand. Sind es negative Entwicklungs- und Erziehungsverhältnisse und/oder sind es gesellschaftliche, politische und ökonomische Einflüsse, die Leiden verursachen. Es ist wichtig, das Zusammenspiel zu erfassen. Es geht nicht um eine objektive Definition von Gesundheit, sondern um eine subjektive. Die Kunst besteht darin herauszufinden, was zu dem Leidenszustand führt und was man daran verändern kann.
Die Mauer ist weg. Wie schnell ist die emotional gefühlte Mauer einzureißen? Sowohl seitens Ost als auch seitens West?
Eine seelische Mauer wird nicht durch das Niederreißen einer äußeren Mauer aufgelöst. Viele Menschen geraten erst einmal in Konflikte. Sie haben gemerkt, dass sie Verhaltensweisen entwickeln mussten, die einengten. Plötzlich, da sie in die Welt expandieren konnten, stellten sie fest, dass sie es nicht können, weil sie es nicht gelernt haben. Sie wurden mit ihrer inneren Mauer konfrontiert.
In Ost und West wurde unterschiedlich erzogen. Es stehen sich zwei Sozialisationsformen gegenüber. Da ist projiziert worden: Der Ostdeutsche hat den Besserwessi beschimpft, weil er dort die Eigenschaften der Selbstbehauptung gesehen hat, die sich bei den Ostdeutschen nicht entwickeln durften. Und der Jammerossi ist für Westdeutsche jemand gewesen, der Beschwerden und Begrenzungen besser benennen kann, als das im Westen möglich ist.
Was können wir tun, um die emotionalen Mauern zwischen Ost und West abzubauen?
Ich würde natürlich sagen, die Menschen brauchen eine Therapie. Jetzt kann man nicht, deswegen bin ich ja öfter belächelt worden, ein ganzes Volk auf die Couch legen. Doch es ist wichtig, sich in solchen veränderten Verhältnissen Zeit und Mut zu nehmen, um genauer hinzuschauen. Es geht um eine Bestandsaufnahme der eigenen Geschichte. In einer Therapie wird Menschen Zeit und Raum gegeben, über sich zu sprechen, damit sie Leidvolles emotional verarbeiten und günstigere Verhaltensweisen finden können.
Sie plädieren für eine Trauerkultur, um den Verlust der DDR zu würdigen. Wie ist das machbar?
Eigentlich ist das nur im persönlichen Bereich machbar, indem sich Menschen begegnen, mitteilen und von ihrem Leben, auch ihrem verlorenen Leben erzählen. Je mehr man etwas Belastendes gefühlsmäßig verarbeiten kann, umso freier wird man am Ende. Das kann man dadurch unterstützen, dass Medien, Bücher, Künstler und Filme das Thema aufgreifen. Es gibt Menschen, die bei gut gemachten Filmen oder beim Lesen weinen können. Man lässt sich berühren und verdaut etwas davon.
Vaclav Havel hat einmal gesagt, wer im Gefängnis nicht frei ist, ist es auch in der Freiheit nicht.
Das ist eine zugespitzte Formulierung. Aber Freiheit ist nicht durch äußere Bedingungen herzustellen. Sie ist ein innerer Prozess. Ob ich mich frei fühle, hat damit zu tun, ob ich alles, was in mir vorgeht, annehmen und verstehen, letztlich auch mitteilen kann. Dass ich keine Einschüchterung und Einengung in mir selbst habe. Und es wäre ein Irrtum zu glauben, dass äußere Freiheit diesen Prozess automatisch verbessert.
Wie hat die Mauer Ihr Leben geprägt?
Alles, was ich gesagt habe, habe ich auch selbst erlebt. Ich habe versucht, unter den gegebenen Bedingungen gut zu leben und mich frei zu entfalten. Für einen Psychotherapeuten ist die individuelle Qualität von Beziehungen die Basis des Lebens. Und nicht so sehr, ob man reisen oder etwas kaufen kann. Und Beziehungen sind durch die Mauer nicht verunmöglicht worden. Manche Beziehungen unter den Bedingungen der Mauer waren intensiver und ehrlicher. Äußerlichkeiten und Status haben damals nicht so eine große Rolle gespielt.
Zur Person:
Hans-Joachim Maaz ist Psychiater, Psychoanalytiker und Autor. 1943 in Niedereinsiedel in Böhmen geboren, wuchs er in Sachsen auf und studierte in Halle (Saale) Medizin. 1974 wurde er Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Als Leiter einer neurologisch-psychiatrischen Abteilung in Beeskow machte er 1980 seinen Facharzt für Psychotherapie. Als Chefarzt der Psychotherapeutischen und Psychosomatischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk in Halle entwickelte er Therapieformen für den Bereich der stationären Gruppenpsychoanalyse. Das kirchliche Umfeld der Diakonie ermöglichte ihm relative Unabhängigkeit vom Staat. Bekannt wurde er vor allem durch sein Wirken als Autor. In »Der Gefühlsstau« und weiteren Schriften setzt er sich mit den repressiven Strukturen in der DDR und ihrer Wirkung auf die Psyche auseinander. Seine späteren Publikationen greifen Beziehungs- und Familienthemen auf. Seit 2008 im Ruhestand, arbeitet er weiter als Schriftsteller.
Interview: Antje Stiebitz
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