Dieser Gott, total verrückt

»Kain« – Roman von José Saramago

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Er war ein zorniger Aufklärer, der Erzähler José Saramago (1922 bis 2010). Aberglaube und jede Frömmelei fand er abstoßend. In etlichen Büchern kritisierte der Nobelpreisträger den Machtanspruch des Klerus und die dumpfe Gläubigkeit der Massen. »Das Evangelium nach Jesus Christus« von 1991 zum Beispiel zeigte einen Heiland voller Zweifel.

Mit seinem letzten Roman hat der Portugiese zurückgefunden zum Thema Religion. »Kain«, das ist die Biografie eines anderen zornigen Aufklärers, der Mann wirkt wie ein Seelenverwandter von Saramago, ein Bruder im Geiste. »Kain« ist die Geschichte des Brudermörders aus dem Alten Testament, eine weitgehend fiktive Geschichte allerdings, erzählt mit einem Augenzwinkern: Auch so hätte sie geschehen sein können.

Ja, Kain mordete, aber nur (so Saramago), weil der Weltenschöpfer den jungen Bauern dazu trieb. Erbost über diese Gemeinheit seines Gottes wird Kain – ein durch und durch »anständiger Mann« – zum Rebellen. Gott hat den Mörder gezeichnet, das Kainsmal hält ihn fern von den Menschen, doch es schützt auch vor ihnen. Ruhelos reist Kain durch die biblische Geschichte. Sieht Gottes Strafgericht für den Turmbau zu Babel, für die Laster von Sodom und Gomorrha, für das goldene Kalb, er sieht in Jericho die Mauern stürzen, und immer sieht er Tote, viele Tote.

Die Opfer – darunter Unschuldige, etwa die Kinder von Sodom – sind in den Augen Kains Beweise »für die tiefe Bösartigkeit des Herrn«, »komplett verrückt« muss er sein. Immer aufs Neue erlebt Kain den Allmächtigen als eitlen, nachtragenden und gewalttätigen Schöpfer. Er spürt: Dieser Gott ist tatsächlich zu allem fähig, »zum Guten, zum Schlechten und zum Schlimmsten«. Wenn der Herr an den Schauplätzen erscheint, an den Tatorten, dann kommt er mit Rauch, Knall, Blitz und einer Schar englischer Begleiter, mit mächtigem PR-Rummel also.

Recht menschlich wirkt dieser Gott mithin, als Mensch aber ist er armselig, scharf geht Kain mit ihm ins Gericht. »Ich habe bloß einen Bruder getötet, und der Herr hat mich gestraft, jetzt möchte ich mal sehen, wer den Herrn für diese Toten strafen wird ...«

»Kain« gehört nicht zu den stärksten Romanen Saramagos, doch ein starkes Buch ist es allemal. Die Sprache hat, was sie bei diesem Autor immer hat: Ironie und ungeheure Sogwirkung. Der Meister präsentiert die Schauplätze des Alten Testaments in farbenfrohen Tableaus. Er entlarvt so manche Bibelgeschichte als Nonsens, manch andere schreibt er einfach um.

Besonders schön ist die Geschichte um Lilith. In der Überlieferung erscheint sie als sumerische Göttin oder weiblicher Dämon, in der Bibel wird sie nur einmal erwähnt, beiläufig. Bei Saramago hingegen ist sie eine zentrale Figur, Herrscherin über eine Stadt, Ehefrau von Noah, die schamlos-schöne Geliebte Kains. Der alte Dichter verblüfft mit deftiger Erotik und zarten Liebesszenen, manchmal amüsiert er durch gezielt platzierte Anachronismen. (Da dienen Versailles und Buckingham Palace zum Vergleich, auch der Guide Michelin und der Zeppelin Hindenburg.)

In erster Linie ist »Kain« eine Art Bilanz – Abrechnung eines Weisen mit verhängnisvoller Ideologie. Ganz klar: Dieses Buch entstand als gezielte Provokation; in Portugal wurde es im Erscheinungsjahr 2009 erwartungsgemäß zu einem gehörigen Skandal.

Es gibt Längen im Text, doch der Schluss ist wieder typisch Saramago – paradox, jedoch auf irritierende Weise wirklichkeitsnah. Kain gelangt auf die Arche Noah, mit Gottes Segen schwängert er Noahs Schwiegertöchter, aber dann, überraschend, vereitelt er Gottes Plan zur Schaffung eines besseren Homo Sapiens: Aus Rache am zutiefst ungerechten Herrn der Welten stößt Kain alle Frauen von der Arche ins Meer: keine Frauen, keine Nachkommen. Nach der Sintflut steht Kain allein vor seinem Schöpfer. (»Was ist jetzt mit der neuen Menschheit, die ich angekündigt hatte, Es hat bereits eine existiert, eine andere wird es nicht geben, niemand wird sie vermissen ...«).

Und der Schöpfer – nun sprachlos, ratlos, machtlos – sieht die Geschichte jäh beendet. Genau so, kein Zweifel, hätte es geschehen können.

José Saramago: Kain. Roman. A. d. Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner. Hoffmann und Campe. 208 S., geb., 20 €.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.