Die Unberührbare

Gerhart Hauptmanns »Einsame Menschen« an der Schaubühne Berlin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Alles kreist. Unten die quadratische Bühne im knöcheltiefen Wasser, oben die Lampe auf ihrer Schienenkonstruktion. Selbst die Stühle auf denen man hier die meiste Zeit sitzt: Dreh-Stühle. Natürlich kreisen auch die Menschen nur um sich selbst, ihr Aktionsradius reduziert sich auf kraftlose Befindlichkeitsmeldungen. Das gekachelten Bühnenquadrat ähnelt einem Floß auf hoher See (Bühne: Sabine Kohlstedt). Selbstverwirklichung? Hat längst Schiffbruch erlitten. Man bescheidet sich in der bürgerlichen Mitte, weiß das gefährliche Meer um die eigene nicht unkomfortable schwimmende Insel herum. Es könnte schlimmer kommen.

Gerhart Hauptmann schrieb »Einsame Menschen« unter dem Eindruck der Begegnung mit Lou Andreas-Salomé. Das ist so eine, die kann ganze bürgerliche Befestigungsversuche im Meer der Zeit versinken lassen. Nietzsche hatte sie sein »Geschwistergehirn« genannt und wollte ein befristete Ehe mit ihr. Sie aber verteidigte ihre Unabhängigkeit, so erfolgreich, dass der abgelehnte Nietzsche sich hinreißen ließ und die, die er sich so gern häuslich untertan gemacht hätte, als »schmutziges Äffchen mit den falschen Brüsten« denunzierte. Die intellektuelle Frau: ein Spezialfall der femme fatale.

Hauptmann hat Lou sehr genau beobachtet. Sie wird bei ihm zu Anna Mahr, einer russischen Studentin, die, aus Zürich kommend, in das mit viel Mittelmaß und Lebenslüge befriedete Haus des vormaligen Theologiestudenten Johannes Vockerat einbricht wie ein Schicksal. Was Rettung sein könnte, wird unter den herrschenden Bedingungen zur Katastrophe. Vockerat, der vom Theologen zum Gotteshasser geworden ist, will ihr nachfolgen, aber sie lebt Nietzsches Vision des Übermenschen, sie folgt niemandem als sich selbst.

So die Konstellation bei Hauptmann. Er verlegt die Handlung in ein Berliner Haus am Müggelsee. Die Existenz einer Studentin gilt damals als unerhört. Intelligenz beim weiblichen Geschlecht? Wenn das nicht ist die gefährlichste Verführung für den sich unverstanden fühlenden Mann ist! Die Szenerie spielt Hauptmann durch.

Doch heute hat sich Dramatik im Stück verschoben. Die junge, wissenshungrige und unabhängige Frau, die wie ein schöner Sendbote aus einer anderen Welt in einen Gelehrtenhaushalt kommt, scheint historisch geworden. Das weiß Regisseurin Friederike Heller. So rückt sie das ins Zentrum, was bei Hauptmann eher als Hintergrund-Milieustudie für die eigentliche Handlung gedacht war (die von allen unverstandene, so unerhört-außergewöhnliche Beziehung von Anna und Vockerat). Die außergewöhnlichen Menschen mit ihren außergewöhnlichen Leiden, sieht Heller mit Skepsis. Das tat auch Michael Thalheimer vor einigen Jahren in seiner Inszenierung von »Einsame Menschen« am DT – da blieb von der dämonischen Lichtgestalt Anna Mahrs nur ein blasses Bild übrig: Studentin von heute eben. Eine konsequente Lesart. Tilman Strauß zeigt Johannes Vockerat als einen blutleerem Menschen, der zu schwach ist, sich zu entscheiden. Sein Wissen ist für sein Leben völlig nutzlos. Jule Böwe dagegen gibt Anna Mahr einen Zug ins desinteressiert-Entrückte. Das ist die Avantgarde: Anna Mahr als der unberührbare, ganz und gar unverletzbare, schmerzresistente Mensch, der sein Ego immer heil durch alle Wechselfälle des Lebens zu bringen versteht.

Die scheinbare Kulisse, von Hauptmann als Beweis einer ignoranten Welt von gestern aufgerufen, sie leidet unter diesen Pionieren des Neuen – und daran erweisen sie sich als Menschen (Eva Meckbach als von Schmerz vernichtete Ehefrau). Da ist vor allem der großartige Ernst Stötzner, der Vater und Mutter von Vockerat zugleich spielt. Ein androgyner Ahnenvogel in schwarzem Rock, eine komische Figur zweifellos, aber weise. Er ist es, der hier neue Horizonte eröffnet. Dieser Hüter des Gottesglaubens gibt dem Gestern einen Rang, der klar oberhalb der bloßen Karikatur liegt und wird damit für die Propheten des Neuen zum unüberwindlichen Hindernis.

Nach einhundert Minuten steht die Bühne still. Vockerat ist abwesend, sein Tod war so trivial wie sein Leben. Damit gehört er wieder dem Kreislauf des Lebens an, dem sich keiner entzieht. Fast keiner, denn Anna Mahr ist rechtzeitig abgereist, lässt sich davon nicht berühren. Eine gelungene, kühl-präzise Versuchsanordnung.

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