Wahlkampf für die Netzgemeinde
Die Demonstration gegen Überwachung in Berlin gehörte dieses Jahr den Parteien, nicht der Bewegung
Am Demo-Stand des AK Vorrat sammelt Kai Uwe Steffens Unterschriften für die Online-Petition gegen die Vorratsdatenspeicherung, die er Ende August gestartet hat. Ganz traditionell auf Papier – das sei möglich, hat er herausgefunden. Im Internet sind bislang 25 000 Unterstützer beisammen. Nach der Freiheit-statt-Angst-Demonstration am Sonnabend in Berlin werden es wohl etwa 1000 mehr sein. Die üblich hohe Zahl – schon die Verfassungsbeschwerde gegen die anlasslose Speicherung aller Kommunikationsverbindungsdaten haben 30 000 Menschen unterstützt. In den vergangenen Jahren waren auch mehrmals zehntausende Menschen in Berlin für (digitale) Bürgerrechte auf der Straße. Doch diesmal fanden sich nur rund 5000 Demonstranten ein, die vom Brandenburger Tor zum Alexanderplatz zogen.
Steffens wundert das nicht. »Es gibt ein Aufmerksamkeitsdefizit für Überwachungskritik«, sagt er. Griechenland, Krise und Arbeitsmarkt bewegten derzeit mehr, »völlig zu Recht«, wie er unterstreicht. »Trotzdem ist der Protest gegen die Vorratsdatenspeicherung weiterhin richtig und wichtig.«
Neben der überschaubaren Teilnehmerzahl gibt es aber noch eine weitere Auffälligkeit an diesem Tag: Die fünfte Freiheitsdemo gehörte den Parteien, nicht der Bewegung. Was früher selbst gebastelte Schilder und Figuren waren, ist diesmal Fahnen und Luftballons von Grünen, Piraten, LINKE und FDP gewichen. Vor allem grünen und orangenen.
Auf der Bühne durfte keiner von ihnen sprechen. Aber das nützte wenig. Wer den Zug an sich vorbeiziehen ließ, konnte den Eindruck bekommen, hier demonstrierten vor allem Parteien und die Linksradikalen der Stadt. Kurz vor den Abgeordnetenhauswahlen haben Parteien gut mobilisiert. Dass sie so ins Auge fallen, liegt aber auch am fehlenden Gegengewicht. Die Netzgemeinde hat sich offenbar wieder vor ihre Rechner verzogen.
Nicht ganz freiwillig, glaubt man dem Netzaktivisten Markus Beckedal. »Viele haben einfach keine Lust, wegen einer Wahlkampfveranstaltung den Weg aus anderen Städten auf sich zu nehmen«, sagt er. Schon vor zwei Jahren habe es wegen der Präsenz der damals noch jungen Piratenpartei Ärger gegeben.
Die Piraten, ein Kind der Bewegung, können sich in Berlin echte Hoffnung machen, ins Abgeordnetenhaus einzuziehen. Ihr Block ist doppelt so groß wie in den Jahren zuvor. Und doppelt so selbstbewusst. Auf einem Schild ist zu lesen: »FDP-Stimme für den Gulli? Piraten wählen!« Es ist die schadenfreudige Retourkutsche für einen Spruch des ehemaligen FDP-Chefs Westerwelle, der vor der letzten Bundestagswahl behauptet hatte, eine Stimme für die Piraten sei eine verschenkte Stimme. Jetzt stehen die Piraten in Berlin bei 6 Prozent und die Liberalen so um die drei.
Die Berliner FDP-Jugend hat gerade deshalb wohl noch mal alle Kräfte zur Demo mobilisiert. Zwei Dutzend Julis sind gekommen. Eine Frau mit dem Konterfei von Innenminister Friedrich als Maske auf dem Kopf findet die verbalen Ausfälle der CDU gegenüber der Justizministerin beim Thema Vorratsdaten »nicht ansatzweise kollegial«. Aber die FDP werde sich mit ihrem Widerstand durchsetzen, versichert sie. »Wir sind keine Partei, die aufgibt.«
Auf dem Alexanderplatz, wo nach der Demonstration vier Stunden politisches und kulturelles Programm stattfindet, sind im Halbkreis um den Brunnen der Völkerfreundschaft Stände aufgebaut. Sie widmen sich auf verschiedene Weise der Bedeutung freier Kommunikation für Demokratie, Menschen- und Freiheitsrechte. Neben dem klassischen Infomaterial, das man einstecken kann, gibt es Mitmach-Möglichkeiten für die direkte Erfahrung. So kann man beim DGB »Vorratsdatenspeicherung« gegen Werte wie Mündigkeit, Sicherheit, Freiheit abwiegen. Die Goldbarren aus Pappe sind unterschiedlich schwer. Am leichtesten ist der Pappkarton »85 Millionen Bürger«. »Die verlieren immer«, sagt der DGB-Mann.
Gegen halb fünf sperrt die Polizei die Fläche rund um die Weltzeituhr ab. Verdächtige Gepäckstücke wurden gefunden. Die Demonstranten interessiert das wenig. Das Programm geht weiter. Freiheit statt Angst.
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