Kleist auf der Landebahn
Ein alter Militärflugplatz in Mecklenburg bildete am vergangenen Wochenende die Kulisse für ein Theaterfestival
Mit wehenden roten Fahnen stürmen geschminkte Männer und Frauen laut brüllend über die Landebahn. Als wäre das nicht schon verwirrend genug, tragen die ganz in Weiß gehüllten Gestalten auch noch Stelzen. Verrückte auf einem deutschen Flugplatz – und niemand schreitet ein? Willkommen auf der at.tention: dem wohl außergewöhnlichsten Theaterfestival Deutschlands! Hier im südlichen Mecklenburg muss sich niemand Sorgen um die Sicherheit des Luftverkehrs machen, denn besagte Landebahn ist längst nicht mehr in Betrieb und fungiert heute als überdimensionale Bühne. Die Gestalten mit den roten Fahnen sind Schauspieler des Berliner Ensembles »Grotest Maru«. Passend zum laufenden Kleistjahr geben sie hier den Kohlhaas. Jene Geschichte vom braven Pferdehändler, der durch die Willkür der Herrschenden zum Freischärler wird.
Gezeltet wird neben der Bühne
Das Publikum sitzt und steht im Kreis um die Schauspieler auf dem rissigen Beton. »Grotest Maru« machen »Theater im Öffentlichen Raum«. Die Atmosphäre ist sichtlich entspannt. Es kreisen Wein- und Bierflaschen, da steckt man die Köpfe zusammen und einige Pärchen schenken einander mehr Aufmerksamkeit als dem Kohlhaas.
Hier auf dem nördlichen Teil des Flugplatzes Rechlin-Lärz, wo einst Wehrmachtsflieger erprobt wurden, KZ-Häftlinge schufteten und später MIG-Düsenjets der Sowjetarmee starteten, herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Nicht immer verlassen die Zuschauer den weiten Kreis ganz freiwillig. Viele sind mit ihren Kindern hier. Schließlich müssen die jüngsten Besucher keinen Eintritt zahlen. Für alle unter Zwölf ist das Spektakel kostenlos. »Papa, das ist langweilig«, beschwert sich ein kleines Mädchen. Der Kohlhaas ist dann doch noch nichts für die vielleicht Sechsjährige, und so fügt sich der Vater. Zusammen schlendern die beiden die Landebahn hinunter, an deren Ende bereits die nächsten Attraktionen warten. Denn der Kohlhaas ist bei weitem nicht die einzige Inszenierung auf dem at.tention-Festival. »Wir haben hier an drei Tagen über 100 Veranstaltungen mit 70 internationalen Gruppen«, erklärt Susanne von Essen bei einer Tasse Kaffee. Die Bremerin ist eine von vier Kuratoren des Festivals. »Wir bieten eine Plattform für kontrastreiches, provokantes, experimentelles und ungewöhnliches Theater«, betont von Essen. Das Konzept der Kuratoren geht offensichtlich auf: Mehr als 4500 Gäste kommen an diesem Wochenende in die mecklenburgische Provinz. »Viele bleiben gleich von Freitag bis Sonntag. Schließlich kann man direkt neben den Bühnen zelten und die schönen Badeseen sind auch nicht weit«, schmunzelt Susanne von Essen. Und wirklich: Rund um die liebevoll dekorierten Flugzeughangars, die nun als Bühnen dienen, hat sich am Sonnabend eine bunte Zeltstadt gebildet.
Doch wie finanziert sich ein solches Festival im strukturschwachen Mecklenburg-Vorpommern? »Wir kommen in diesem Jahr ganz ohne Fördergelder aus«, erläutert von Essen. Das gehe aber nicht zu Lasten der Theaterkünstler: »Wir zahlen vernünftige Gagen«. Doch allein über die Eintrittsgelder lässt sich ein Großereignis wie die at.tenion kaum bezahlen. Woher kommt also das Geld? Hinter dem Festival steht kein reicher Mäzen, sondern ein zweites Festival namens »Fusion«. Dieses finanziell sehr einträgliche Musik- und Kunsthappening, das unter dem Motto »Ferienkommunismus« alljährlich Zehntausende nach Lärz lockt, erwirtschaftet oftmals Überschüsse. Ein Teil dieses Gewinns fließe in die at.tention, erklärt die Kuratorin. Darüber wacht ein Verein namens »Kulturkosmos«, dem auch das Gelände gehört. Die Kulturkosmonauten arbeiten ehrenamtlich, und trotzdem hat sich in den vergangenen Jahren eine Menge auf dem Gelände getan. So hat man die alten sowjetischen Hangars vorsichtig umgebaut. Jede dieser grasüberwachsenen Betonkonstruktionen wurde unter einem bestimmten Gesichtspunkt ausgestaltet. Da gibt es ein »Cabaret«, ein »Teatro«, eine »Datscha« oder einen »Salon de Baile«. Jeder dieser Hangars wird auch bespielt. Der Aufwand für Künstler und Organisatoren sei enorm, meint Susanne von Essen. Auch deshalb finde das Festival mittlerweile nur noch alle zwei Jahre statt. »Wir arbeiten hier alle ehrenamtlich. Da reichen die Kräfte nicht, so eine Mammutprojekt jedes Jahr zu stemmen«. Die meisten der hier tätigen Techniker und Betreuer arbeiten nebenbei an etablierten Theaterbühnen. »Wir alle sind auch ein bisschen besessen von der at.tention, deshalb opfern viele hier Urlaub und Freizeit«.
Schneewittchen trifft die Hamletmaschine
Bei einem abendlichen Gang über das Gelände wird schnell klar, warum viele freiwillige Helfer, Künstler und Besucher der Magie dieses Festivals erliegen. Da wird im Cabaret-Hangar eine nicht ganz jugendfreie Version des Märchens Schneewittchen aufgeführt. Während auf der Landebahn der eingangs erwähnte Kohlhaas läuft. Später am Abend wird Heiner Müllers »Hamletmaschine« gegeben, und um Mitternacht verzaubern die portugiesischen Trapezkünstler von »Teatro do mar« das Publikum mit einer unglaublich bunten Show. Gleich nebenan, im »Luftschloss«, simuliert das schwedische Tanzensemble »Arkelog 8« die Bewegungsmuster eines Videospiels. Oftmals muss sich der Besucher entscheiden. Viele der Veranstaltungen laufen zeitgleich.
Entspannung im »Feuergarten«
Wem das zu viel Aufregung ist, der geht in den »Feuergarten«. Hier dreht sich eine überdimensionale Metallkugel wie von Zauberhand bewegt. Auf der gesamten Kugeloberfläche befinden sich kleine Feuerschalen, deren Schein die Zuschauer in ein gespenstisches Licht tauchen. Dazu spielt ein Musiker hypnotische Weisen auf einem orientalischen Saiteninstrument.
Und die Anwohner? Die Kulturkosmonauten versuchen, die Menschen aus der Umgebung einzubeziehen. So kümmert sich eine eigens angestellte Theaterpädagogin um den Nachwuchs. Auf einem alljährlich stattfindenden Theatercamp werden jungen Menschen die Grundlagen der Schauspielerei nahegebracht. Mit Erfolg, wie man am Sonnabend sieht. Da hat die Schülergruppe aus dem Landkreis Mecklenburg-Strelitz mit »Geschichten aus dem Neubau« ihren großen Auftritt.
Nur die Polizei spielt nicht mit. Und so müssen einige Künstler und Festivalbesucher schikanöse Kontrollen über sich ergehen lassen. Offenbar hält man die schrägen Vögel für Drogenabhängige. Aber vielleicht lernen auch die Ordnungshüter dazu: Die nächste at.tention wird es erst im Jahre 2013 geben.
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