GÜNTER DE BRUYN: Die Mathematik!
Marginalien zum KLEIST-JAHR 2011
Aus Kleists jungen Jahren sind an Selbstzeugnissen nur drei Briefe erhalten, an denen sich der Ablauf seines Soldatenlebens erkennen lässt ... Von den Freuden und Qualen, die ihm besonders die mathematischen Studien bereiteten, berichtet Kleist ausführlich in seinem langen Brief (1799) an Martini (Hauslehrer seiner Kindheit), er erzählt aber auch von seinen Verwandten in Frankfurt, die mit Entsetzen auf seinen Schritt in eine unsichere Existenz reagierten, und er verrät dem ehemaligen Lehrer auch seine Zukunftspläne, die nichts davon ahnen lassen, dass er in den ihm noch verbleibenden elf Lebensjahren eines der bedeutendsten Dichtwerke deutscher Sprache hervorbringen wird. »Meine Absicht ist«, schreibt er, »das Studium der reinen Mathematik und reinen Logik selbst zu beendigen ...«. Von Dichtung aber oder auch nur von Interesse an ihr steht in diesem schier endlosen Brief kein Wort.
Es ist der Brief eines strebsamen, ganz von den Lehren der vernunftgläubigen Aufklärung erfüllten Schülers, der sich alles, auch das Glück, vom Wissenserwerb verspricht, sich selbst aber noch nicht kennt. Folglich vergisst er in seiner Bildungsbilanz zu erwähnen, dass wichtiger als Mathematik und Latein die Menschen für ihn waren, die er in den Potsdamer Jahren kennengelernt hatte. Da waren die Freunde, wie ein Rühle von Lilienstern und ein von Pfuel aus Jahnsfelde, von denen ihn einige noch eine Strecke seines schwierigen Weges begleiten sollten, ein Fräulein Louise von Linckersdorf, in das er sich anscheinend erfolglos verliebt hatte, und vor allem eine sechzehn Jahre ältere Offiziersgattin, die zu seiner Vertrauten, später vielleicht auch Geliebten wurde und wohl als einzige der ihm nahestehenden Menschen bis zum letzten Tag seines kurzen Lebens zu ihm hielt. Ihn ganz zu verstehen, war ihr wohl genauso wenig wie jedem anderen gegeben, aber sie ließ sich den Glauben an sein Genie auch durch alle seine Misserfolge nicht rauben.
(Aus: Günter de Bruyn: Als Poesie gut – Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807. S. Fischer, Frankfurt am Main, 2006)
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