Sturm auf Wall Street
Proteste gegen Armut und soziale Ungleichheit in den USA weiten sich aus
Die Demonstranten im südlichen Manhattan werden nicht müde. Als Zombies verkleidet, zog die »Occupy Wall Street« (Besetzt die Wall Street)-Bewegung zu Wochenbeginn wieder durch den Finanzdistrikt von New York. Dabei verlief schon das Wochenende rund um die Wall Street ungewöhnlich unruhig. Wo sich sonst nur Touristen aus der ganzen Welt tummeln, protestierten am arbeitsfreien Sonnabend und Sonntag ein paar Tausende gegen die US-amerikanische Wirtschaftspolitik und skandierten auf die Frage »Wem gehört die Straße?« - »Uns«. So blieb auch die New Yorker Polizei an der U-Bahn-Station »Wall Street« präsent und schaute trotz aller Lässigkeit jedem Passanten genau ins Gesicht.
Denn am Samstag hatte die Polizei auf der Brooklyn Bridge, die keine zehn Minuten zu Fuß entfernt liegt, rund 700 Demonstranten festgenommen. Mehr als dreimal so viele waren am späten Nachmittag dorthin aufgebrochen, um ihrem Protest gegen die Profitgier der Banker und die allgemein miese soziale Situation in den USA Ausdruck zu verleihen. Aber die Demonstranten, die einen genehmigten Marsch abhielten, wurden von der Polizeiführung offenbar aufs Glatteis gelockt. Genehmigt war die Demo zwar auf der Fußgängerbrücke, aber einige Polizeibeamte an der Spitze des Marsches führten einen Großteil der Teilnehmer auf die daneben liegenden Fahrzeugspuren der Brooklyn Bridge, die die Stadtteile Manhattan und Brooklyn verbindet. Wegen »Behinderung des Straßenverkehrs« mussten deshalb Hunderte die Nacht in Polizeigewahrsam verbringen. Doch auch Rechtsanwälte begleiteten den Marsch. Die Polizeimaßnahme wird wohl ein gerichtliches Nachspiel haben.
Polizeifahrzeuge und Beamte überall
In den darauf folgenden Tagen ist die Situation noch immer leicht angespannt und selbst für Außenstehende nicht zu übersehen. Im Zuccotti Park, dem die Aktivisten kurzerhand wieder seinen alten Namen »Liberty Plaza« gaben, befindet sich seit dem 17. September das inzwischen international bekannte Protestlager. Schon morgens ist auch dort die Polizei nicht zu übersehen.
Der Platz, halb so groß wie ein Fußballfeld, wird an allen vier Seiten von Beamten überwacht, die jede Bewegung der müden Camper registrieren. Die Nordseite, die an ein riesiges Bankenhochhaus grenzt, ist Meter für Meter mit gut zwei Dutzend Polizeifahrzeugen blockiert. Mit einem mobilen, mit fünf Kameras ausgerüsteter Wachturm versucht die New Yorker Polizei Ruhe und die Kontrolle zu bewahren.
Aber dafür tragen die Demonstranten schon selbst Sorge. Auf dem von Bäumen überdachten Platz ist es überraschend sauber, selbst nach schweren Regengüssen. Die 22-jährige Collegestudentin Corinne Scott aus dem Stadtteil Queens lacht nur. Die Schlafsäcke seien warm genug, die Unterlagen weich. »Wenn es regnet, dann sorgen die dicken blauen Plastikplanen für Trockenheit, und wenn es ungemütlich wird, dann schmiegen wir uns eben eng aneinander.« Sie hält seit Beginn der Besetzung aus.
Die Menge, die hier übernachtet, ist von 200 am Anfang auf inzwischen 500 Personen angewachsen. Dazu kommen tagsüber mehrere Tausend, vor allem seitdem gefilmte Polizeiübergriffe ins Internet gestellt worden sind - der sogenannte Solidarisierungseffekt, den die Polizeibehörden weltweit wohl immer wieder falsch einschätzen. Viele bleiben tagsüber, manche schauen nur kurz vorbei. Das Durchschnittsalter derjenigen, die auf dem Liberty Plaza übernachten, dürfte um die 25 Jahre liegen. Doch tagsüber steigt mit der Besucherzahl auch das Alter. Das Camp ist inzwischen gut organisiert. Es gibt nicht nur die Putzkolonne, sondern eine tägliche Demovorbereitung, Sanitäter, einen kleinen Kindergarten, eine Bücherei, das Essenskomitee und den Medienausschuss.
Direkt an der Ostseite des Platzes befindet sich der Broadway. Die Straße ist ein paar Kilometer weiter nördlich bekannt als die Theater- und Musicalmeile der USA. Hier unten stellt sie eine viel befahrene Verkehrsader und damit eine gute Gelegenheit zur Verkündung von politischen Botschaften dar.
Mit seiner Armeeuniform, dem Helm auf dem Kopf und polierten Stiefeln fällt David Suker in der Menge von alternden Linken, jungen Dreadlocks-Trägern und stillenden Müttern sofort auf. Er steht stramm an der Kreuzung zum Broadway. »Die Jahre, die ich in der Armee verbrachte, waren die Jahre, in denen ich die Freiheiten der USA beschützte«, sagt er etwas pathetisch, fügt dann aber hinzu: »Und diese Proteste hier haben zu tun mit den Freiheiten, die uns die Konzerne wegnehmen. Nämlich die Freiheit, nach Glück zu streben. So steht es in der Verfassung. Aber dazu ist wirtschaftliche Gerechtigkeit nötig und sie wird von der Wall Street unterminiert.« Der 43-Jährige wendet sich einem abwesend wirkenden Hippie-Pärchen zu, das ihn ungläubig anstarrt. »Alles okay?«, lächelt er ihnen zu. »Ja, ja«, antworten die beiden. Er habe von 1986 bis 1988 in Heilbronn gedient, sagt Suker zum Abschied.
Die Besetzung des Liberty Plaza wird nur unter strengen polizeilichen Auflagen geduldet. So sind etwa Bullhörner, Lautsprecher und Megafone untersagt. Die Demonstranten behelfen sich bei ihren Versammlungen deshalb mit einem simplen System des »menschlichen Megafons«.
Noch keine zentrale Forderung formuliert
Die Sätze oder Halbsätze eines Sprechers werden von den unmittelbar Umstehenden im Chor wiederholt. Dieser Chor wird wiederum von einem größeren Chor kopiert. In Sekundenschnelle bekommen damit Tausende jedes Wort eines Redners oder einer Rednerin mit.
Was die Unzufriedenen, die Arbeitslosen, Collegestudenten und Linken mit ihrer Aktion »Occupy Wall Street« genau wollen, haben sie noch nicht klar definiert. Bisher war es aufgrund der enormen Auflagen seitens der Behörden, aber auch dem Selbstverständnis der weitgehend antiautoritären, anarchistischen Ideologie der Teilnehmer nach kaum möglich, einen Forderungskatalog oder eine zentrale Forderung zu formulieren. Der Selbstdarstellung auf ihrer Internetseite occupywallst.com zufolge, auf der 24 Stunden lang Livebilder vom Liberty Plaza gesendet werden, ist »Occupy Wall Street« eine »führerlose Widerstandsbewegung« mit Menschen aller möglichen Hautfarben, Geschlechter und politischen Überzeugungen. »Was uns alle verbindet, ist, dass wir die 99 Prozent sind, die die Gier und die Korruption des einen Prozents nicht mehr hinnehmen werden«, heißt es. Dabei werde die revolutionäre Taktik des arabischen Frühlings genutzt. Auf Gewalt wolle man verzichten.
Am Samstag erschien zum ersten Mal eine vier Seiten umfassende, professionell gesetzte Zeitung mit dem Namen »The Occupied Wall Street Journal«. Darin mischt der ehemalige Korrespondent der »New York Times« Chris Hedges mit. Finanziert wurde die Gratisauflage von 50 000 über Spenden. Angeblich kamen innerhalb weniger Stunden über einen Internetaufruf mehr als 10 000 Dollar zusammen, um das Blatt herausbringen.
Die »Occupy Wall Street«-Bewegung, der es bis jetzt noch nicht gelungen ist, die Wall Street selbst symbolisch zu besetzen, scheint zu wachsen - nicht nur im Zentrum der Finanzmacht New York. Am Wochenende beteiligten sich mehrere tausend Menschen an Protesten etwa in Boston, Chicago und San Francisco. Inzwischen werden auch Gewerkschaften und selbst die Internet-Wahlkampforganisation »Moveon.org«, die sich vor drei Jahren für Barack Obama eingesetzt hatte, auf die Bewegung aufmerksam. Beide Lager rufen dazu auf, sich heute an einem weiteren Marsch auf die Wall Street zu beteiligen.
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