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Der Geschichte verpflichtet
JOSEF HASLINGER: »Jáchymov« – ein Stück Aufklärung
Es liegt am Fuße des Erzgebirges in Westböhmen, das Heilbad Jáchymov. Wer es durchfährt, dem fällt das Grand Hotel auf: ein viergeschossiger Bau mit einem imposanten neoklassizistischen Haupttrakt und zwei leicht im Knick nach innen angeschlossenen Flügeln. Das Baujahr des Hotels muss nach 1906 liegen, denn damals wurden in den ehemaligen Silberbergwerken ausgiebige Radon-Quellen entdeckt, die Jáchymov zum ersten Radon-Heilbad der Welt machten. Diesen Aufbruch verdankt die Stadt dem Physiker-Ehepaar Pierre und Marie Curie, die in Restbeständen des Joachims-thaler Erzes die ersten radioaktiven Elemente fanden.
In Josef Haslingers Roman »Jáchymov« treffen sich zufällig Anselm Findeisen, Inhaber eines kleinen Verlags in Wien, und eine ehemalige Tänzerin. In ihrem Ärger über das angeblich ausgebuchte Grand Hotel kommen sie ins Gespräch. Er will prüfen, ob es lohnt, in Jáchymov eine Kur zu beginnen, denn er leidet an Morbus Bechterew, einer jede Rückenbewegung zur Qual machenden Verknöcherung der Wirbelsäule. Die Frau hat ein anderes Motiv für ihren Besuch. Im Bergwerk von Jáchymov hatte ihr Vater Mitte der 50er Jahre Zwangsarbeit leisten müssen: mit bloßen Händen Uran abbauen. Dabei wurde er verstrahlt und starb 1963 an Leukämie. Die Frau möchte, dass die Tragödie ihres Vaters in einem Buch aufgeschrieben wird: »Ich will, dass ihm wenigstens nachträglich die Ehre zuteil wird, die ihm 1950 genommen wurde.« – Sie trägt dem Verleger diese Aufgabe an, aber er gibt sie zurück an die Frau.
Zu Beginn des Romans sitzt der Verleger über den ersten Seiten des Vater-Buches, die er von der Tänzerin erhalten hat. Es ist die Geschichte von Bohumil Modry, dem gefeierten Torwart der tschechischen Nationalmannschaft im Eishockey. Zweimal wurde er mit ihr Weltmeister, hat das Angebot eines kanadischen Klubs ausgeschlagen, um Tscheche zu bleiben. Als das Team 1950 nach London zu einem Turnier fahren wollte und ihm die Pässe verweigert wurden, zogen die Spieler in eine Prager Kneipe und machten ihrem Zorn Luft. Von diesem Moment an hatten sie die Gewalt des tschechischen Staates gegen sich. Auch Bohumil Modry, obwohl er bereits aus dem aktiven Sport ausgeschieden war. Haslinger erzählt, wie einem Ehemann und Vater, der seine Familie liebt, einem gefeierten Sportler und Bauingenieur, einem im Grunde unpolitischen Menschen ein politischer Prozess gemacht wird. Und wie er aus politischen Gründen, die weder mit ihm zu tun haben noch ihn persönlich meinen, zu Tode kommt.
Das in »Jáchymov« aus dokumentarischem Material rekonstruierte Schicksal von Bohumil Modry schafft ein bewegendes Bild vom Nachkriegsstalinismus in der Tschechoslowakei kurz vor den berüchtigten Slansky-Prozessen. Haslinger stellt einen Satz der tschechischen Schriftstellerin Radka Denemarkovà voran: »Sie haben sich von der Räudigkeit der Nazis anstecken lassen, ohne sich dessen bewusst zu sein.«
Von Haslinger, 1955 im niederösterreichischen Zwettl geboren und seit Gründung des Deutschen Literaturinstituts Leipzig einer seiner Direktoren, liegen zwei Romane vor, beide verfilmt: »Opernball« und »Vaterspiel«. Beide stehen in der Tradition einer Literatur, die gesellschaftliche Zustände analysiert. Wie Thomas Bernhard, Gerhard Roth und Robert Menasse griff Haslinger die österreichische Schuldverdrängung nach dem Krieg und ihre moralischen Folgen an. Dass er jetzt eine Geschichte aus Tschechien zum Romanstoff macht, ist nicht nur dem Zufall geschuldet, die Tochter der Sportlegende Modry kennengelernt zu haben. Der Verleger Findeisen, der aus der DDR stammt und 1973 nach Wien gegangen ist, sagt im Roman: »Gerade hier, wo man gerne im Windschatten der Geschichte gelebt hat, müssen solche Geschichten erzählt werden«. »Jáchymov« versteht und liest sich als ein Stück Aufklärung.
Nun ist aber der Roman keinesfalls als Lektion verfasst. Zwar stammt der Stoff aus zweiter Hand, eben von der Modry-Tochter, aber er ist stark erzählt. Haslinger schafft sich mehrere Ebenen. Zuerst die Handlungsebene, auf der sich der Verleger und die Tänzerin begegnen, hinzu kommen die Probeseiten des Vater-Buches, von der Tochter verfasst, das große Kapitel über den tschechischen Eishockeysport und die noch nicht geschriebenen Teile der Geschichte ihres Torwarts in den 40er und 50er Jahren. Der tschechische Eishockey-Sport wird von seinem Aufstieg an die Weltspitze bis zu seinem vorläufigen Ende in den 50er Jahren, als er seine Kunst an die sowjetischen Spieler abzugeben hatte, ein großes Erzählfeld. Offensichtlich hatte das Reiseverbot für die tschechische Nationalmannschaft 1950 nach London genau damit zu tun: Die sowjetische Mannschaft sollte keinen stärkeren Gegner haben. Für den Roman erweist es sich als außerordentlich glücklich, dass Haslinger die Handlungsfäden sehr leichthändig verknüpft. Damit schafft er einen Kontrast zur Schwere des Schicksals von Bohumil Modry.
Sicher, der dokumentarische Stoff bindet Haslinger die Fantasie. Er kann nicht wie in seinem Roman »Opernball« einen ähnlichen Einfall benutzen wie den Giftgas-Anschlag auf den Wiener Opernball vor laufenden Kameras. Die Verpflichtung, die er gegenüber der Geschichte Modrys eingegangen ist, erlaubt ihm literarisch nur einen fiktionalen Minimalismus. Aber er schöpft ihn in seinem dritten Roman »Jáchymov« erzählerisch gekonnt aus.
Josef Haslinger: Jáchymov. Roman. S. Fischer Verlag. 272 S., geb., 19,95 €
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