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Entbehrliche?
Sozial Benachteiligte und die Bürgergesellschaft
Wer für sich in Anspruch nimmt, Partei für sozial Schwache und Benachteiligte zu ergreifen, sollte dieses Buch gelesen haben - eine hoch qualitative Studie über sozial Benachteiligte.
In der Einleitung blickt Franz Walter zunächst einmal in die Vergangenheit, betrachtet das »neue Unten« der Weimarer Republik, das zum »Ferment eines bis dahin unbekannten aktionistischen Arbeiterradikalismus in Deutschland« wurde. In den 1950er Jahren habe sich die Arbeiterklasse »entproletarisiert«, angesichts Vollbeschäftigung und dem Gefühl sozialer Sicherheit. In den 1970ern entstand eine »neue Unterschicht«, während die »alte, berufsstolze, disziplinierte, selbstbewusste, zukunftsoptimistische, kulturell ambitionierte Arbeiterklasse« die Bühne verließ und die alten Arbeitermilieus mit ihrer überlieferten Solidargemeinschaft sich auflösten. Die Aufsteiger wanderten ab, und die neuen »Outsider« organisierten sich nicht mehr, »formten sich nicht mehr kulturell, gaben sich politisch keine Impulse mehr«, so Walter. Jene, die zurückblieben, hatten nicht die Kompetenzen, in ihren Quartieren kollektive Strukturen aufzubauen.
Um eben jene geht es in der vorliegenden Publikation: die »Entbehrlichen der postindustriellen Gesellschaft«, die eine neue Klasse bilden, gleichwohl ohne Wahrnehmung eigener Kollektivität und verbindender Interessen, ohne Gegenideologie und subversiven Aktionsdrang.
Eine Gruppe Göttinger Wissenschaftler hat zusammen mit dem Sinus-Institut in Nordrhein-Westfalen »Politikwahrnehmung in der Unterschicht« untersucht und zu diesem Zweck Interviews mit Menschen geführt, die mit weniger als 600 Euro monatlich auskommen müssen, einen niedrigen Bildungsgrad aufweisen sowie soziokulturell entkoppelt sind von der Mehrheitsgesellschaft und deren Möglichkeiten. Die Probanden stammen aus Stadtvierteln, die als »Sammelbecken« benachteiligter Bevölkerungsgruppen gelten, so Kassel-Oberzwehren, Leipzig-Grünau und Göttingen Grone-Süd.
Arbeitslosigkeit und Hartz IV sind für den Großteil der Befragten »das beherrschende Thema«. Arbeit gilt als der zentrale Zugang zur Bürgergesellschaft. Wer Arbeit hat, hat auch »mehr Freizeit«. Konkrete, individuelle Hilfe wird von den Befragten nicht als Einsatz für das Gemeinwohl gewertet. Ihre derzeitige Situation vergleichen sie mit früheren Lebensweisen. Während für einen Teil der Interviewten diese zu DDR-Zeiten besser waren, sehen sich die anderen, Bürger mit Migrationshintergrund, trotz aller Probleme in einer besseren Lage als im Herkunftsland der Eltern oder Großeltern.
Wie aber steht es nun mit der Wahrnehmung von Politik oder Beteiligungsmechanismen? Politiker werden als hermetisch abgeschlossene Kaste eingeschätzt. Vom Alltag des Volkes wüssten jene nichts. Von der Politik erhofft man sich überwiegend nichts mehr. Ökologisches Bewusstsein könnten sich nur Reiche leisten. Die Möglichkeit, selbst etwas zu ändern, sehen die meisten nicht. Es fehlt ihnen Selbstvertrauen. Bildung hat man als eine Erfahrung des Scheitern verinnerlicht. Die »Ferne« sozial Benachteiligter zur modernen Bürgergesellschaft wird auch durch deren abstrakte Sprache, die von ihnen oft nicht verstanden wird, zementiert. Engagierte Politik müsse die Sprache der »Unterschicht« lernen, lautet eine Schlussfolgerung der Studie.
Eine weitere Beobachtung lautet: Partizipationsformen wie Bürgerinitiativen, direktdemokratische Begehren und Unterschriftenaktionen sind »in der Regel noch stärker sozial ungleich verteilt« als konventionelle Beteiligungsformen wie die Teilnahme an Wahlen. Aktivisten von Parteien und Gewerkschaften sind vor Ort den sozial Benachteiligten nicht bekannt. »Sie scheinen anderen Kontaktkreisen und fernen Lebenswelten anzugehören.« Parteien müssten sichtbarer werden und aktiv ihre kommunalen politischen Strukturen wie Stadträte und Ortsvereine stärken. Die Beurteilung von Parteien hinge auch davon ab, ob sie etwas zur Verbesserung der Lebenslage der Menschen im konkrete Wohnumfeld leisten. Spielplätze, Sozialstruktur, Mieten sind die einzigen Bereiche, in denen eigenständiges Engagement sozial Benachteiligter über Nachbarschaftshilfe oder Unterstützung im Familienverband hinausgeht. Politisches Engagement, ist - falls überhaupt - weniger organisiert, sondern viel mehr als spontane, flexible Aktion denkbar.
Johanna Klatt/Franz Walter: Entbehrliche der Bürgergesellschaft? Sozial Benachteiligte und Engagement. Transkript-Verlag, Bielefeld 254 S., br., 19,80 EUR.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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