Unstillbarer Dämon Angst
Der Mörder als Tragöde. Shakespeares »Macbeth« am Thalia Theater Hamburg, Regie: Luk Perceval
Theater fällt aus der Zeit. Auf dass wir - für die kostbaren, hilfreich verstörenden Momente einer so ganz anderen Weltwahrnehmung - von Außendruck und hartem Lebensgefüge nicht belangt werden können. Theater stürzt aber auch immer wieder zurück in die Zeit: Denn noch im Bannkreis der Poesie bleiben wir doch - Gezeichnete. So ist es möglich, in einer Inszenierung von Shakespeares »Macbeth« inständig ans Draußen zu denken. An Gaddafi zum Beispiel.
Am vergangenen Wochenende hatte Shakespeares Tragödie am Thalia Theater Hamburg Premiere, Regie: Luk Perceval - und soeben war der libysche Diktator getötet worden. Wie kommt es, dass mit Macbeth ein so arg Bluttriefender, ein Mörder ohne jeden Halt, zum Held eines Stückes aufsteigen kann, das seinetwegen (nicht ob der Opfer!) sogar Tragödie genannt werden darf? Wer dagegen spricht am ersehnten Ende realer Blutsauger und Volksversklaver von deren Tragödie?
Die Reichs- und Staatsverderber der Wirklichkeit werden möglichst schnell verscharrt, sichtbare Erinnerung kommt auf den Index. Und wie diese Schinder zur Machtfigur wurden, auch mittels Vieler, die nunmehr auf den toten Herrscherkörper spucken - das wird verdrängt, das wird kalkulierend und manipulierend aus den Gedächtnissen getilgt. Die Kunst hat solcher politischen Praxis eines voraus: die Kraft zur Differenzierung, die Souveränität einer Hinwendung noch im Bösesten. Nicht, um das Böse zu relativieren. Aber sehr wohl, um dieses Böse als ein Nähe-Erlebnis zu wagen. Um es zu verstehen. Das ist die Verführung durch Kunst: sich als Betrachter selbstprüfend einzulassen auf die bestialische Möglichkeit, die in jeder Existenz lauern könnte.
Die Utopien der einen Epoche verursachen die Gemetzel der folgenden. Geschichtsschreibung meuchelt daher nachträglich die Utopien und lügt uns vor, dies nur vorsichtshalber zu tun. Kunst ist mutiger, sie geht verschlungenste Wege zwischen Ursachen und Wirkungen und vermeidet kurze Schlüsse. Kunst weiß: Wir bilden uns zwar ein, die Geschichte erklären zu können, aber wir scheitern doch schon am Geheimnis jenes Menschen neben uns, den wir am besten zu kennen glauben.
Gegen die volksschnoddrige Art, wie Diktatoren dieser Welt am Ende real erledigt und geil entsorgt werden (pfeilschnell herausgenommen aus allen Koordinaten ihres Werdens und aus der Wahrheit einer Schuld, die auf mehrere Schultern zu verteilen wäre), gegen diese Art, eine grobe Unart!, versucht Kunst ihre Lehrerschaft. Um uns das Böse ans Herz zu legen. Damit das Herz lerne, dem Bösen zu widerstehen.
Percevals Inszenierung beginnt mit Macbeth' stierem, starrem, einem stummen, stumpfen Stehen - schon während sich der Zuschauerraum füllt. Er steht in einem Gelände aus unzähligen, wirr verteilten Kriegsstiefeln. Lady Macbeth turnt turtlig herum, Kriegskumpel Banquo (charmant ledern: Alexander Simon) schaut Macbeth unverwandt an, nervös erwartungsvoll, aber auch schon mit dem unbewusst weisen Blick des künftigen Opfers. So lethargisch beginnt ein Frieden. Den Krieg gewonnen? Das Nichts gewonnen. Die Leere, Punkt null. Auch Sieger sind Zerschlagene.
Jetzt das Entscheidende: Lady Macbeth blickt in den Bühnenhintergrund, wo Banquos kleiner Sohn auf einem Tisch sitzt. Es ist der Schreckens-, der Stoß-, der Sturmblick einer Frau, die ihr Kind verlor, und deren Mann, Macbeth, offenkundig zeugungsunfähig ist. Es ist der Lady-Blick, der die Welt so, wie sie ist, nicht hinnimmt. Es ist der flehende, fiese, gierige, alles Blutige auslösende Blick in die Zukunft: Der jetzige König muss sterben, damit Macbeth König wird, Banquo und Söhne müssen sterben, damit Macbeth, der Kinderlose, König bleibt. Die Ausrottung als Versuch, die eigene Fehlbarkeit zu tilgen. Es wird sich da einer - weibsbefohlen, machtwillig aus trägem Fett heraus - in die politische Größe eines kalt Gebietenden hineinmorden, um die eigene Belangbarkeit, die eigene Endlichkeit zu verleugnen.
Macbeth stiert, schlägt Wurzeln in eine Sinnlosigkeit hinein, in der aber doch Taten zu geschehen haben. Mordtaten. Dieser Macbeth des fulminant bewegungsarmen Bruno Cathomas ist kein Quentchen ehrgeizkeuchend, er steht, tiefer noch als in fremdem Blut, in seiner eigenen Angst. Treibt sich die Spitzen der Krone, die sein Verhängnis ist, selbstquälerisch in den Bauch. Findet nur qualvoll zu Worten wie »Sinn« oder »Leben«. Als müsse er Felsstücke speien, so zerreißt es ihm schier das Maul.
Cathomas spielt ein erschütterndes Bibbern, zu erleben ist Schmerzekstase, ein geräuschloses Surren der Antriebsnerven, die furchtschwitzende Seele eines schweren, nahezu autistischen Klumpens Mensch. Nach seinem ersten Mord heult er, wird aber leider kein Schoßhund. Auf den Fußball von Banquos Sohn tritt er, als zertrete er einen Schädel. Und als am Ende seine Frau in seinen Armen klemmt, muss dem anwesend Abwesenden erst gesagt werden, dass sie tot ist. Ein Mörder kann mit Toten nichts anfangen, er liebt aus sehr speziellen Gründen das Lebendige.
Die Lady der Maja Schöne trifft blendend gut die Balance zwischen Liebeswut und Intrigenzartheit; sie klatscht ihrem Dicken aggressiv keck auf den Bauch; sie ist die Unbefriedigte, die darüber nicht ihre Grazie verliert (das muss eine Frau erst mal schaffen). In ihrem Wahn wird sie die zahllosen Militärschuhe auf dem Bühnenboden paarweise anordnen, als begründe sie eine neue Front - im Krieg einer Lüsternheit, der verloren wurde. Und über der Szene (Bühne: Annette Kurze) hängt bühnenhimmelhoch eine Armada zusammengeknoteter Tische. Ein Museum der Möbel, die nicht gebraucht werden, hier, wo nur Kehlen wie Tischtücher zerschnitten werden und keiner sich, aus Angst, zum anderen setzt.
Perceval ist ein großer Shakespeare-Regisseur. Die Salzburger »Schlachten!« vor Jahren: zehn Sternstunden neuzeitlichen deutschen Theaters. Percevals Regie ist Komposition, ist atmosphärische Installation. Hier nun hat er - verdichtet, klug introvertiert - ein Meditationsdrama entworfen, das uns mit den furchtbaren Folgen jener einen schlimmen Sekunde erschreckt, da ein Mensch eine sittliche Grenze überschritt. Erregend, wie besagte Angst, dieser unstillbare Dämon, zum theatralischen Bild werden kann. Ein knapp zweistündiges Spiel mit Licht und Schatten. Ohne jedes Blut. Messer sind etwas, das man nur hinterm Rücken verbirgt. Die Gewalt ist ein Blitzen in den vier Familie-Macbeth-Augen. Die Mikroports der Schauspieler - welch tolles Paradoxon - verstärken das Flüstern hin zum Schweigen. Jene Hexen, die wissenskalt Aufstieg und Untergang Macbeth' prophezeien, geistern tonlos, als Nackte mit bodenlangen Haaren, in den Lichtnischen des Bühnenhintergrunds. Ein bisschen Hofstaat tippelt, rennt im Bühnenkreis.
Der Abend tut weh. Er ist so still in seiner Gnadenlosigkeit, auf den Grund der Existenz zu gehen. »Das Leben ist ein Schatten und der wandert,/ ein armer Spieler nur, der seine Stunde/ auf einer Bühne auf- und abgeht und sich quält,/ und dann ist er verscholln ...« Das müssen wir uns von einem Mörder sagen lassen? Ja.
Dieser Mörder zweifelt nicht an der Zwecklosigkeit seines Handelns, nein, er mordet durchaus zweckbewusst, aber: Er gewinnt am Rande der eigenen Ermordung Einsicht in seine Nichtigkeit. Das ist in der Hierarchie weit oben ein größeres Problem als unten. Vielleicht lag Gaddafi in seinem Abwasserrohr und hatte diese Einsicht auch. Er ist ein Toter einer Zeit, die auf Shakespeare angewiesen ist, um sich selber, in ihren Abgründen, ein wenig besser zu verstehen. Und alle Widersprüche zuzulassen! Luk Perceval offenbart dies, tief dunkel und bezwingend.
Nächste Vorstellung: 30. 10.
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