Sommernachtstraum bis heute
Eine Bühne steht für viele: Im Oktober vor hundert Jahren wurde das Stadttheater Bremerhaven gegründet
Der elenden deutschen Kleinstaaterei ist es mit der Erschaffung des deutschen Stadttheaters gelungen, sich in den Ruhm zu retten. Und es ist ein weithin reichender Ruhm geworden - der es sogar auf die Kandidatenliste für das UNESCO-Welterbe schaffte. Eine staatlich, kommunal subventionierte Bühnenlandschaft von über 200 großen, mittleren, kleinen Theatern - das sucht Seinesgleichen und findet doch nicht mal vage Vergleichbares in Europa und Übersee. Staats- und Stadttheater sind gleichsam öffentlich-rechtlich bestallte Anstalten für eine doch trotzdem unabhängig bleibende, von ständigem Existenzkampf eigentlich prinzipiell freigestellte Kunst - und freilich eines Apparats, der mit seiner feudalen Struktur (und Schwerfälligkeit) nicht unumstritten, nicht unverwundbar durch die Zeiten ging.
Insofern also doch: Existenzkampf. Anschwellende Anfragen der verwaltenden und verteilenden Politik, wie denn das Verhältnis von Aufwand und abrechenbarer Effizienz sei. (Kunst und Effizienz: kein gutes Paar!). Die Grenzen für Bewegung sind enger geworden: Ausdünnung der Ensembles, Zusammenlegung von Sparten, ja auch Schließung. Mehr und mehr steht Theater zwischen Stiftungsgeist und Rotstiftmentalität der beschließenden, bezahlenden Macht. »Minimal-Bespaßung« nennt Bremerhavens Kulturdezernent Rainer Paulenz das Übel neuzeitlicher Kulturpolitik, er bezeichnet das Theater der Weserstadt - gegen solche Nivellierung von Ansprüchen - als »kulturellen Hauptbahnhof«; die Stadt subventioniert das Mehrspartenhaus mit gut elf Millionen Euro jährlich.
Das Bekenntnis zum alten, ehrwürdigen Stadttheater ist ein nahezu revolutionärer Akt der kulturellen Bestandswahrung geworden, und just das landläufig als klein Eingestufte ist oft genug das beispielgebend Zähe - im Aufbegehren gegen Spardruck und Schrumpfungszwang. In diesem Monat feiert zum Beispiel das Stadttheater Bremerhaven sein hundertjähriges Bestehen, im Jahre 2000 wurde das Große Haus für 63 Millionen Mark renoviert, auch das Kleine Haus erhielt ein neues Gesicht, und man möchte in Richtung des Theodor-Heuss-Platzes ausrufen: Es lebe die Provinz!
Denn was sich im etwas respektlosen Umgangston noch immer Provinz nennen lassen muss, das ist: Ursprung und Bürgernähe. Ist Bodenständigkeit, jedoch Losgelöstheit vom Gala-Glitzern. Ist oft ein Sieg des Idealismus über die Erfolgssucht. In der sogenannten Provinz fand seit jeher der leidenschaftliche Anfänger ein Spielparadies, ehe er aufstieg zu den Zentren, dort in den Mittelpunkt rückte oder sich einreihen musste in die große Schar der ewig auf eine Hauptrolle Wartenden. Provinz, das war Zeitvermögen bei gleichzeitigem Verschleiß - man hatte gut und viel zu tun.
Auch Bremerhaven war so ein Startplatz für Karrieren. Hier spielte der »schwere Preuße« Martin Held, hier begann TV-Star Christoph Maria Herbst seine Laufbahn (»Fishtown war Heimat für mich«). Einer von Deutschlands wichtigsten Regisseuren, Michael Thalheimer, spielte von 1989 an drei Jahre an der Weser, gab den Roberto Zuccho in Koltès gleichnamigem Stück. Am Haus, wo auch die Niederdeutsche Bühne Waterkant regelmäßig ihre Auftritte hat, erlebte 1964 sogar eine Verdi-Oper, »Attila«, ihre deutsche Erstaufführung.
Shakespeares »Sommernachtstraum« bildete im Oktober 1911 den Stadttheater-Auftakt, das Stück steht auch in der jetzigen Jubiläumsspielzeit wieder auf dem Spielplan (Regie: Intendant Ulrich Mokrusch). Der erste Intendant, Gustav Burchard, sorgte einst sogar für die Aufführung des gigantischen Wagner-»Rings«, es inszenierte Leo Blech. Zu den Größen, die immer wieder in Bremerhaven gastierten, gehörten, ab 1913, auch die russische Ballerina Anna Pawlowna Pawlowa, später der Welttenor Helge Rosvaenge. Seit Mitte der neunziger Jahre übrigens spricht man vom »Ballettwunder Bremerhaven«, vor allem geknüpft an die Choreografen Ricardo Fernando und Jörg Mannes.
Die Zeit scheint vorbei, da Schauspieler auch in Theatern wie Bremerhaven ausgiebig Erfahrungen sammelten, sich dann mit dem Fundus des Erlebten mählich aufmachten in die Nähe hellerer Scheinwerfer. Heute gilt wohl hauptsächlich der Wille, Zeit zu überspringen; das Fernsehen hat neue Kriterien der Popularität ins Feld geworfen, das ein Kampfplatz wurde. Daher um so mehr: Plädoyer fürs Stadttheater! Ehre einer Kunst, die genau ihren Ort, ihr Publikum zwischen Schiffdorf und Phiesewarden, zwischen Loxstedt und Debstedterbüttel kennt (welche wundersam exotische Vorstadt-Namen!). Eine Kunst, die genau abzuwägen bereit ist, wie das Spannungsfeld zwischen Experiment und Tradition zu gestalten und wie das Selbstbewusstsein gegen den Andrang der Events zu retten und zu festigen sei.
Es liegt in der Logik und es ist die Tugend der weit verteilten deutschen Theater, dass ihre Größe, ihr Charakter und ihr Auftrag ein lokal begrenzter ist. Namen sind weltberühmt oft »nur« in diesem Strahlkreis. Daher seien hier einige Bremerhavener Theaterspieler und Sänger und Tänzer genannt, willkürlich ausgewählt, ein Weg durch viele Jahre; für Leute weit abseits der Stadt sicherlich gänzlich Unbekannte, aber: Jeder Name ist doch eine Melodie, ist Hülle für eine Geschichtenfülle, die der Nicht-Bremerhavener zwar nur ahnen kann, der Bremerhavener indes mit schönster Erinnerung verbindet. Norbert Kollakowsky, Gudrun Kreutzberger, Hans Hansen, Herzlieb Kohut, Hans Eich, Gerd Hecker, Rita Lorenzen, Markus Schwendemann, Many Paul, Mirko Roschkowski, Jasmin Solfaghari, Sascha Icks, Walter Vertrit.
Hundert Jahre Stadttheater. Hundert Jahre liebenswerte und närrische, unerträgliche und bedeutende, ehrgeizige und gleichgültige, begnadete und minder begabte, erfolglose und prominente, junge und alte Komödianten - wir im Zuschauersaal sehen euer Gelingen und euer Versagen, eure Besessenheit und eure Albernheit, ahnen eure Kleinlichkeit und eure demütigen Ängste, und all dies zusammen ergibt eines, und dieses eine heißt nicht, wie ihr euch nennt, nein, es heißt Shakespeare, Goethe, Sophokles - oder, um nur einige Autoren der jetzigen Bremenhavener (Schau-)Spielzeit zu nennen: Schimmelpfennig, Nadolny, Williams, Barlow.
Auch für Bremerhavens Spieler galt wohl: Wen's im Innern trifft, der muss ans Theater, wo immer es steht; er muss, auch wenn er nicht weiß, was ihn erwartet. Nur noch die Seeleute (wir sind in Küstennähe!) zieht es so stark zur Existenz des wahrlich Bodenlosen; denn bodenlos bleibt's, trotz Planken oder eben Bühnenbrettern. Immer nur Fahrt ins Ungewisse, ein Heimathafen ist ein Theater nie. Die im 100. Jahr wie die im ersten: Man leidet an der Arbeit, am Nichtarbeiten auch, man hasst den Beruf und verflucht ihn und wird ihm aber nie entrinnen; man wird alle echten Konflikte mit dem Leben und der Welt des Tageslichts für ihn hergeben und wird nie genau wissen, warum.
Wenn wir wüssten, was Theater ist, würde es kein Theater geben.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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