PLATTENBAU

  • Olaf Neumann
  • Lesedauer: 5 Min.

Lou Reed, 69, hat ein paar der schönsten und zugleich bizarrsten Songs der Rockgeschichte geschrieben, von »Venus In Furs« über »Heroin« bis hin zu »Walk On The Wild Side«. Ende der 1950er Jahre, als die Rockmusik noch in den Kinderschuhen steckte, drosch der 17-Jährige bereits kreischende Akkorde aus seiner elektrischen Gitarre heraus, drohte mit Wutausbrüchen, falls ihm die Familie nicht permanent ihre gesamte Beachtung schenkte. Das ging so lange, bis der Arzt den hyperaktiven Teenager in Therapie schickte: Elektroschockbehandlung. Dem sensiblen Jungen wurden die gleichen Stromstöße durchs Gehirn gejagt wie bei einem stämmigen Massenmörder. Es war das gestörte Verhältnis der Umwelt zu ihm, das Lou Reed später bewogen hat, mit immer radikaleren Ideen seine Vorstellungen von Musik zu verwirklichen.

1975 veröffentlicht der Exzentriker und Warhol-Intimus aus New York das schwer verdauliche Doppelalbum »Metal Machine Music«. Prä-Heavy-Metal in Form von vier Instrumentalstücken, die nur aus Rückkopplungen bestehen. Dazu hatte Reed die Gitarren offen gestimmt und an Verstärker gelehnt, so dass sie sich selber spielen. 2008 kreiert er mit dem Metal Machine Trio improvisierte Musik im Spannungsfeld von Noise-Rock, Free Jazz, Ambient und Electronica. 2009 kommt es bei den Konzertveranstaltungen zum 25. Jubiläum der Rock & Roll Hall Of Fame in New York schließlich zu einer schicksalhaften Begegnung. Der »King of Avant-Rock« jammte mit den Thrash-Metal-Göttern von Metallica. Von dieser Liaison schwärmt Reed in den höchsten Tönen: »A marriage made in heaven«. Vom ersten Moment an hat er das Gefühl, dies ist Perfektion, direkt vor seinen Augen.

Nun hat das ungleiche Gespann sogar ein Album zusammen aufgenommen, genauer gesagt: den Sound-track zu dem hundert Jahre alten Skandalstück »Lulu« des in Hannover geborenen Dramatikers Frank Wedekind. Reed mit seiner literarischen Ader verfolgt dabei den Anspruch, Rockmusik mit »den intellektuellen Inhalten zu füllen, die einst in Romanen und Filmen beheimatet waren«.

Der Sänger und Gitarrist, der vor allem in Deutschland bereits Erfahrung mit Theatermusik sammeln konnte, komponierte die Songs ursprünglich für den Theatervisionär Robert Wilson, dessen »Lulu« derzeit am Berliner Ensemble zu sehen ist. Wedekinds Lulu ist die Blaupause aller männerverschlingenden Luderfiguren der jüngeren Kulturgeschichte. Leichen säen ihren Weg, bis sie schließlich selbst von einem Freier erstochen wird.

»Ich glaube, wir haben uns noch nie so frei gefühlt«, flötet Metallica-Boss Lars Ulrich, 47, in einem Interview mit dem US-amerikanischen »Rolling Stone«. Bei diesem Projekt ist für ihn alles vorstellbar, der Gedanke »Was passiert, wenn wir das machen?« käme ihm nie in den Sinn. Ulrich pfeift auf alle Vorbehalte und bezeichnet »Loutallica« als die normalste Kombination überhaupt. Schließlich handele es sich bei ihnen um Seelenverwandte, um Brüder gar. »Gemeinsam sind wir so stark, dass wir das Gefühl haben, immer richtig zu liegen«.

Ursprünglich lautete der Plan, älteres Material aus Lou Reeds Feder aufzunehmen, vergessene Juwelen der Punk-Vorläufer The Velvet Underground, an die sich niemand mehr erinnern kann. Der große Unberechenbare änderte seine Meinung eine Woche vor Beginn der Sessions im HQ-Studio in Nordkalifornien. Reed schlug seinen neuen Kumpels stattdessen ein Album mit jenen Songs vor, die er für die Berliner Produktion »Lulu« geschrieben hatte.

Wer jetzt hofft, dass man Metallica demnächst auf einer Theaterbühne erleben wird, täuscht sich indes gewaltig. »Ich glaube nicht, dass sie auf den Broadway wollen«, so Reed in einem Interview mit dem »New York Magazine«. »Das sind Metalheads. So was werden sie nie tun.«

Lou Reed, der dafür bekannt ist, mit Interviewpartnern verwirrend und arrogant umzugehen, macht seinem Ruf alle Ehre. »Die Version meiner Lulu-Musik, die ich mit Metallica eingespielt habe, ist ehrfurchtgebietend. Wahrscheinlich das Größte, was ich jemals gemacht habe. Ich weiß, ich kann ein neues Planetensystem erschaffen. Und das ist kein Witz, ich bin auch nicht egoistisch«.

Eine nüchterne, objektive Betrachtung ergibt jedoch einige relativierende Ergebnisse. Songs wie »Enter Sandman« oder »Nothing Else Matters«, die das Zeug zu Klassikern haben, liefern Metallica auf dem sperrigen Doppelalbum nicht ab. Wirklich berührend ist »Junior Dad«. Mit dem 20-minütigen Epos über einen alternden Vater soll Reed die Metal-Haudegen James Hetfield, 48, und Kirk Hammett, 48, im Studio zu Tränen gerührt haben. »Drei Wochen zuvor hatte ich meinen Vater verloren«, outet sich Hammett im »Mojo Magazin«. »In dem Moment, da Lou zu singen begann, musste ich türmen. Ich fand mich dann schluchzend in der Studioküche wieder.«

Reeds ungehaltener Sprechgesang ist zweifellos einzigartig, aber nicht jedermanns Sache. Sein tief dringendes Genöle trifft in Jam-artigen Songs auf die gewaltigen, unerhört aggressiven Gitarren von Hetfield und Hammett. Gute-Laune-Musik sollen andere machen. Lou Reed blickt von Berufs wegen ständig in menschliche Abgründe.

Es ist vor allem die klaustrophobische Atmosphäre dieses Albums, die den Hörer in den Bann zieht, und die Bilder, die noch lange nachwirken. Nach all dem Dröhnen und Kreischen der Gitarren erklingt auf der zweiten CD doch noch Versöhnliches. Es ist schon reichlich schwere Kost, die hier serviert wird, und die selbst die härtesten Lou-Reed-Jünger nicht erschüttern kann, aber wohl einige Metallica-Fans vergrätzen dürfte.

Lou Reed/Metallica: Lulu (2 CDs, Universal). Die limitierte Deluxe Book Edtion enthält Fotos von Anton Corbijn.

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