Schmutzwasser für Verdurstende
Das Mikrofinanz-Geschäft dient nicht der Armutsbekämpfung, sondern stürzt die Kreditnehmer tiefer ins Elend
»Nur wenige aus unserem Dorf haben es tatsächlich geschafft, der Armut zu entfliehen«, so Sufia Begum, eine langjährige Schuldnerin der Grameen Bank. Sie kommt aus dem Distrikt Tangail in Bangladesch, wo die Mehrfachverschuldung von Kleinstkreditnehmerinnen schon in den 1990er Jahren zur Überschuldung führte. Sie ist 45 Jahre alt, Witwe, und hat vier Kinder groß gezogen. Nachdem sie jahrelang regelmäßig ihre Raten abbezahlt hatte, kam sie nach dem Tod ihres Mannes, der als Landarbeiter Geld verdiente, in Zahlungsschwierigkeiten. Sie ist nicht die Einzige. »Etwa drei Vierteln der Kreditnehmerinnen in unserem Dorf bringen die Mikrokredite überhaupt nichts«, erklärt Sufia Begum. Zusammen mit ihren Nachbarinnen hat sie Lieder gedichtet, die von den Mikrokrediten handeln. Der Text eines melancholischen Liedes variiert immer ein Thema: Von 100 sind es 10, die überleben. Die anderen sterben: Küken, Kinder - und Mikrokreditnehmerinnen. »Ich kann nicht verstehen, wie dafür jemand den Friedensnobelpreis bekommen kann«, sagt die Frau aus Bangladesch.
Banken kannibalisieren Selbsthilfegruppen
Wenn heute von Mikrofinanz die Rede ist - deren Kerngeschäft immer noch die Mikrokredite sind - hat das kaum noch etwas mit dem alten Genossenschaftsgedanken zu tun, aus dem sie angeblich hervorgegangen sind. Die Frauengruppen, die sich in den 1970er und 1980er Jahren beispielsweise in Südasien als Selbsthilfegruppen zusammentaten und einen Spargroschen zurücklegten, um anschließend einzelnen aus der Gruppe zinsgünstige oder gar zinsfreie Darlehen auszuzahlen, sind weitgehend überholt. Heute dominiert die Mikrofinanzindustrie den Sektor - so wird dieser profitable Wirtschaftszweig im englischsprachigen Raum genannt. Ihre Akteure - institutionelle Anleger, Großbanken und Finanzmarktjongleure - haben viele dieser Selbsthilfegruppen regelrecht kannibalisiert: Sie haben das Geld dieser Frauengruppen, ja die Ressourcen ganzer Dorfgemeinschaften zu einer Finanzquelle für Investoren gemacht. 60 Milliarden US-Dollar sind derzeit als Mikrokredite weltweit im Umlauf, das Potenzial wird auf mehr als 250 Milliarden Dollar geschätzt.
Schon der Zinssatz, der allerdings in den Werbebroschüren der Mikrofinanz selten erwähnt wird, sollte stutzig machen, wenn mal wieder von »Armutsbekämpfung durch Mikrofinanz« die Rede ist. Laut der weltbanknahen CGAP, einem Zusammenschluss vor allem institutioneller Investoren, betrug der Zinssatz für Mikrokredite 2008 im weltweiten Durchschnitt 35 Prozent.
Egal ob Mikrokredite tatsächlich dazu verwendet werden, eine sogenannte einkommensschaffende Tätigkeit aufzubauen, oder - wie in vielen Fällen - für Notfälle wie eine medizinische Behandlung verwendet werden: Diese hohen Zinssätze fressen die in der Regel dürftigen Einkommen der Kreditnehmer auf. Deshalb können Darlehen zu solch exorbitanten Zinsen nicht zur Armutsbekämpfung beitragen, sondern stürzen viele Kreditnehmer und Kreditnehmerinnen in die Überschuldung und damit tiefer in die Armut.
Entwicklungshilfeministerien, institutionelle und privatwirtschaftliche Investoren sowie die große Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler, die sich der Mikrofinanz verschrieben haben, insistieren heute auf »finanzielle Nachhaltigkeit« der Mikrofinanz. Sie soll ohne Subventionen auskommen und sich auf den Finanzmärkten das notwendige Kapital beschaffen. Im Dienste dieser »finanziellen Nachhaltigkeit«, die sich für die Kundinnen in wöchentlichen Ratenzahlungen manifestiert, schicken verschuldete Frauen ihre Kinder nicht mehr in die Schule, sondern zur Feldarbeit. Sie verkaufen ihr kleines Stück Land, prostituieren sich oder sehen keinen anderen Ausweg mehr als den Selbstmord.
Das Geschäft mit Mikrokrediten ist grundsätzlich eine Frage der Perspektive. Wenn man das Wort »Kredit« durch das Wort »Schulden« ersetzt, wird das absurde Ausmaß des Mikrokredit-Hypes für die armen Schuldnerinnen und Schuldner deutlich. Mögen Schulden bei niedrigen oder gar keinen Zinsen auch bei ärmeren Kreditnehmern vorübergehende Engpässe überbrücken oder ihnen eine Starthilfe sein, der große Befreiungsschlag aus der Armut sind sie auch dann für die Allerwenigsten. Geld verdienen mit Schulden, das gelingt vor allem Banken, Konzernen, der Mafia und Vermögenden, die ihre Schulden von der Steuer absetzen oder Geldwäsche betreiben.
Neue koloniale Abhängigkeit
Der ganze Ansatz der Mikrofinanz unterliegt einem Denkfehler. Er besteht in der Annahme, Armut ließe sich mit marktwirtschaftlichen Mitteln bekämpfen. Aber diese Behauptung ist spätestens in den vergangenen zwei Jahrzehnten, in denen sich der Kapitalismus ohne die lästige Systemkonkurrenz ausbreiten konnte, mehrfach widerlegt worden: Die Zahl der Hungernden steigt, die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer, die exorbitanten Gewinne und das Wirtschaftswachstum haben das Elend in der Welt nicht verringert, sondern vergrößert.
Armut ist ein Bestandteil des Kapitalismus - und nicht etwa ein Kollateralschaden. Und damit ist auch die ideologische Ebene der Mikrofinanz benannt: Sie verdeckt die strukturellen Ursachen der Armut, nährt die Illusion, der Kapitalismus würde auch im Sinne der Armen funktionieren können. Diesem Mythos haucht die Mikrofinanz neues Leben ein. Sie verdeckt den Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum, zwischen Ausbeutung und Profit. Mikrofinanz ist vielmehr ein weiteres Instrument der Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums, und zwar nicht von oben nach unten, sondern umgekehrt.
Die langfristige Abhängigkeit von externen Geldflüssen schafft damals wie heute in den Dorfgemeinschaften koloniale Abhängigkeiten. Tritt etwa der seltene Fall ein, dass mit Hilfe der Mikrofinanz erworbene Hilfsmittel die dörfliche Nahrungsproduktion tatsächlich steigern, wird dadurch nicht die Ernährungssituation verbessert. Denn ein nicht unerheblicher Teil der Ernte muss an Außenstehende - in der Regel Händler - verkauft werden, um das Geld für die Ratenzahlungen zu erwirtschaften. Um also kurzfristig an einen Mikrokredit zu kommen, müssen Schuldner und Dorfgemeinschaft langfristig in Kauf nehmen, dass ein großer Teil der Wertschöpfung wieder aus dem Dorf abfließt.
Die daraus entstehende Überschuldung vor allem der Landbevölkerung ist in Südasien, dem heutigen Gravitationszentrum der Mikrofinanz, ein altbekanntes Phänomen aus der Kolonialzeit. Bereits in den 1930er Jahren hatte die Wirtschaftsordnung die Verschuldungsspirale derart angespannt, dass die britischen Kolonialherren »die Gier der Geldverleiher und den Verlust verpfändeten Landes von Kleinbauern« einschränken wollten. Es blieb beim Versuch. Erst nach der Unabhängigkeit 1947 konnte zumindest in Indien durch staatlich subventionierte Kreditprogramme die Situation entspannt werden. Diese zwischenzeitlichen Erfolge bei der Armutsbekämpfung stehen zur Disposition - unter anderem wegen der Mikrokredite.
Der Begriff der »Neokolonialisierung«, den einige Kritiker der bestehenden Weltwirtschaftsordnung verwenden, findet auch in der Überschuldung einen Ausdruck und prägt die Wortwahl von Kreditnehmerinnen. In Bangladesch etwa werden Mikrofinanzinstitute und ihre Mitarbeiter als »new zamindars« (neue Großgrundbesitzer) bezeichnet, oder sogar als »New East India Company«, in Anlehnung an die britische »East India Company«, die den Subkontinent bereits im 18. Jahrhundert wirtschaftlich ausbeutete und die spätere politische Kolonialisierung durch Großbritannien einleitete.
Fortsetzung der IWF- und Weltbankpolitik
Politiker, NGOs, Investoren und Wissenschaftler bezeichnen Mikrokredite als Alternative zur herkömmlichen Entwicklungspolitik. Tatsächlich stellen sie eine konsequente Fortsetzung der sogenannten Strukturanpassung von IWF und Weltbank dar, die auf permanentes Wirtschaftswachstum in einer Welt mit begrenzten Ressourcen setzte und setzt. So werden Kreditnehmerinnen und Kreditnehmer in ein Wirtschaftssystem integriert, das die weltweite Armut und Mangelernährung maßgeblich hervorgebracht hat. Mikrofinanz fördert schließlich die Landflucht und damit das, was Karl Marx »ursprüngliche Akkumulation« genannt hat, das heißt die Enteignung der Landbevölkerung von ihren Produktionsmitteln. Vielen Menschen wird so ihre Existenzgrundlage entzogen. Die Erfahrungen mit Mikrokrediten im indischen Andhra Pradesh und in Bangladesch sind ein deutlicher Hinweis darauf. Die Befürworter der Mikrofinanz wollen dennoch weitermachen. Sie lassen keine Alternative zur Mikrofinanz und Kommerzgesellschaft gelten. Sie machen den Menschen zum Objekt, zum »Homo oeconomicus«.
Dabei gibt es Alternativen: Gemeingüter, solidarische Ökonomie und der Ausbau des öffentlichen Sektors. Sie erweitern den Handlungsspielraum der ärmeren Bevölkerungsschichten und ermöglichen ihnen die gesellschaftliche Teilhabe.
Wenn diese Teilhabe aber nur noch mit Geld zu haben ist, also öffentliche Räume sowie Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheitsversorgung im Rahmen der sogenannten Strukturanpassung oder Schuldenreduzierung zunehmend privatisiert werden, dann schlägt die Stunde der Mikrokredite - auch wenn sie die Schuldner ins Verderben stürzen. Es ist, als würde schmutziges Wasser an Verdurstende verkauft.
Die ersten Genossenschaften wurden Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet. Arme oder in Not geratene Menschen konnten in den Selbsthilfevereinen Darlehen erhalten. Die heutige Vergabe von Mikrokrediten hat mit der alten Genossenschaftsidee nichts mehr zu tun. Die Leidtragenden dieser profitorientierten Geschäfte sind meist Frauen aus ärmeren Gesellschaftsschichten der sogenannten Entwicklungsländer, die bis an ihr Lebensende verschuldet bleiben. Deshalb demonstrierten Menschen aus der All-India Democratic Women's Association (AIDWA) im vergangenen Jahr vor der staatlichen »Reserve Bank of India« für die Regulierung der Mikrofinanzindustrie.
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