Schlafmittel als Risiko
Häufig verleugnet: Missbrauch und Abhängigkeit von Medikamenten
Die 69-jährige Frau ist häufig unkonzentriert und fühlt sich »benebelt«, ihr Gang ist unsicher, und sie ist schon mehrfach gestürzt, hat sich zum Glück noch nichts dabei gebrochen. Nachts schläft sie selten durch. Und: sie nimmt seit über 20 Jahren einmal täglich 50 mg Oxazepam. Das Mittel gehört zu den Benzodiazepinen und wird als Beruhigungsmittel eingesetzt.
Bei dem Fallbeispiel, das Ernst Pallenbach von der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) in der vergangen Woche auf einem Symposium in Berlin anführte, fragt man sich zunächst, welcher Arzt das Mittel jahrelang verschrieb, obwohl das Gefährdungspotenzial keine neue Entdeckung ist. Die Frage ließ sich nicht mehr beantworten. Es gelang jedoch, die Einnahme über 24 Wochen zu reduzieren und das Mittel ganz abzusetzen, bei gegenseitiger Information von Arzt und Apotheker. Der Entzug von benzodiazepinabhängigen Patienten - dazu gehört auch Diazepam, das unter dem Handelsnamen Valium seit Mitte der 60er Jahre Karriere machte - geschieht bisher aber nur in Modellprojekten.
Auf der anderen Seite stehen vermutlich mehr als eine Million Benzodiazepinabhängige allein in der Bundesrepublik, wie Martin Schulz von der Arzneimittelkommission der deutschen Apotheker einschätzt. Zu den am meisten gefährdeten Patientengruppen gehören an erster Stelle ältere Frauen, außerdem chronisch Kranke mit Schlafstörungen, psychisch Kranke mit Angst- und Persönlichkeitsstörungen sowie alkohol- oder drogenabhängige Menschen. Das Suchtpotenzial liegt wohl auch darin begründet, dass es sich bei den über 20 zugelassenen Benzodiazepinen tatsächlich um Medikamente handelt, die bei Schlaflosigkeit, Angst und Unruhe schnelle Hilfe bieten. Leider geht mit der Gewöhnung häufig die Wirkung verloren und kognitive Störungen treten auf. Es steigt das Risiko von Stürzen, auch Atemstillstände im Schlaf können sich verstärken.
Ärzte und Apotheker fragen sich nun, warum die Abhängigkeit von Benzodiazepinen so verbreitet ist. Auf der Patientenseite scheint zunächst das Problembewusstsein zu fehlen, gerne wird die Verantwortung völlig an die verschreibenden Ärzte abgegeben. Die Kostenbeteiligung für einen stationären Entzug erscheint zu hoch. Aber das ist nur ein Grund, warum die Langzeitkonsumenten nur selten in spezialisierten Einrichtungen auftauchen. Die Abhängigkeit von einer niedrigen Dosis wird von ihnen selbst nicht als solche eingeordnet. Das Vorgehen bei einem Entzug ist unbekannt, die Belastungen werden genauso überschätzt wie die Vorteile einer Abstinenz unterschätzt. Ärzte betrachten ein hohes Lebensalter als hinderlich für einen Entzug, Apotheker wollen sich nicht in die ärztliche Therapie einmischen.
Modellprojekte empfehlen niedrigschwellige Angebote im ambulanten Bereich, bei denen unbedingt Ärzte und Apotheker zusammenwirken sollten. Den Patienten steht eine bessere Lebensqualität in Aussicht. Den Apothekern hilft ein neuer, knapper Leitfaden der Bundesapothekerkammer, angemessen auf Arzneimittelmissbrauch und -abhängigkeit zu reagieren. Darin sind nicht nur die problematischen Substanzen aufgelistet, sondern auch das Vorgehen bei der Patientenberatung wird beschrieben. Hinzu kommt eine (anonymisierte) Meldepflicht, damit das entsprechende Missbrauchsrisiko von Arzneimitteln früh erkannt wird. Grundsätzlich deutet die Problematik aber auf die Zwiespältigkeit im Umgang mit hochwirksamen Medikamenten hin. Denn neben den Benzodiazepinen machen in Bezug auf Missbrauch auch andere Mittel Grund zur Sorge: die Liste reicht von den Opiaten über bestimmte Hustenstiller bis hin zu Abführ- und Entwässerungsmitteln.
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