Die Gespenster schlafen nicht

Dimiter Gotscheff inszeniert Heiner Müller an den Kammerspielen des DT

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Margit Bendokat in »Mommsens Block«
Margit Bendokat in »Mommsens Block«

Eine Tür im eisernen Vorhang öffnet sich, erst eine, dann zwei, schließlich drei Gestalten sind zu sehen. Wer ist das? Die fröhlichen Überlebenden der nächsten Katastrophe? Ihre Gesichter sind Masken, auf einen Ausdruck gestimmt, der nichts mehr ausdrückt. Einige Sekunden blicken die drei durch die Tür. Was sie sehen scheint ihnen nicht zu gefallen, oder sie einfach nur zu langweilen. Einer nach dem anderen tritt zurück. Die Tür schließt sich. Dunkel. Ende.

So beginnt dieser Heiner-Müller-Abend »Verkommenes Ufer. Medeamaterial. Landschaft mit Argonauten« zusätzlich noch ergänzt durch »Mommsens Block«. Regie: Dimiter Gotscheff, Bühne: Mark Lammert. Spielbar ist das nicht. Höchstens sprechbar, vielleicht zeigbar. Wollte man mit bösem Unverständnis auf die kommenden hundert Minuten blicken, könnte man von einem bunten Heiner-Müller-Abend sprechen. Aber er ist doch eher apokalyptisch-dunkel, mit einigen irrlichternden Farbtupfern, die die Bedrohlichkeit der Situation noch steigern. Diese Sammlung von Texten für jeweils einen Sprecher verbirgt das Fragmenthafte nicht. Das Ganze? Längst zerbrochen.

Eindrucksvoll ist die Konzessionslosigkeit, mit der Gotscheff sich seinen Weg durch das Müller-Material bahnt. Weniger Dickicht als Wüste. Man braucht hier kein Buschmesser, eher einen Kompass, um sich in der unübersichtlichen Ödnis des Geländes nicht zu verirren. Von Gottfried Benn gibt es den Satz: »Bedenke die Lage.« Müller liefert hier den Kommentar zu diesem Satz: Wir, in einer Endzeit lebend, blicken unverwandt nach vorn. Was wir sehen, sind die Trümmer unserer vergangenen Gläubigkeit.

Eine Anmerkung Müllers, die man als Szenenanweisung verstehen kann, lautet: »Der Text braucht den Naturalismus der Szene. ›Verkommenes Ufer‹ kann bei laufendem Betrieb in einer Peepshow gespielt werden, ›Medeamaterial‹ an einem See bei Straußberg, der ein verschlammter Swimmingpool in Beverley Hills oder die Badeanstalt einer Nervenklinik ist.« Diese Anweisung, die eher melancholisch eine Möglichkeitserweiterung von Textwirkung beschreibt, ignoriert Gotscheff klugerweise. Ja, er sabotiert sie mit ausgestellter Künstlichkeit.

Wir sehen Wolfram Koch in einem stummen Kampf mit einer vom Bühnenboden herabgelassenen gelben Stange. Äquilibristik für einen Narziss, der - vergeblich - einen Weltwiderstand sucht. Eine fortgesetzte »Übermalung«, die Gotscheff und Lammert bereits mit ihrer Godard-Adaption »Die Chinesin« an der Volksbühne begonnen haben. Die Rückverwandlung von Müllers rein retrospektiver »Bildbeschreibung« in neue Bildschöpfung. Eine kühle Symphonie von wenigen aus dem Dunkel auftauchenden, sorgsam komponierten Farbkontrasten. Wer Mark Lammerts Tafelbilder kennt, weiß: hier wird der Bühnenboden in ein Gemälde verwandelt, werden Farbklänge erzeugt, die den Worten einen Resonanzraum geben. Koch trägt leuchtend rote Schuhe, Almut Zilcher gelbe und Margit Bendokat blaue. Wie hier der Text bildhaft wird? Koch verliert erst einen Schuh, dann, einige Meter weiter, den zweiten. Zwei rote Punkte im Bühnenschwarz, ein gelber und ein blauer Schal gehen auch zu Boden - sparsame Farbstriche für jene »Landschaft mit Argonauten«, bei der mir Ulrich Mühes Stimme aus der Tonaufnahme »Einen Dichter denken: Laut« nicht aus dem Kopf geht. Da wurde die Stimme physisch und der Körper selbst zur Stimme. Ein erkenntnisheller Augenblick des stammelnden Irrsinns.

Hier ist das getriebene Scheitern Teil der Wegsuche, immer weiter voran die vergebliche Expedition namens Selbsterkenntnis. Mühe drang dabei weit in unbekannte Gegenden vor: »Soll ich von mir reden Ich wer / Von wem ist die Rede wenn / Von mir die Rede geht Ich Wer ist das / Im Regen aus Vogelkot Im Kalkfell / Oder anders Ich ein Fahne ein / Blutiger Fetzen ausgehängt Ein Flattern / Zwischen Nichts und Niemand Wind vorausgesetzt / Ich Auswurf eines Mannes Ich Auswurf / Einer Frau Gemeinplatz auf Gemeinplatz Ich Traumhölle ...« Man probiere es, diese Art Text einmal laut zu sprechen, die atemlose Aufhebung des überkommenen Satzgefüges und das Freilegen eines viel tieferen Rhythmus - und dann schließlich steht ein Sinn vor uns, der in eisiger Hitze sich zu einem mystischen Zugleich von Reden und Schweigen aufschwingt. Lauter stumme Schreie im Angesicht eines Jahrhunderts, dem an Schrecken keines der vorangegangenen vergleichbar scheint.

Dahin wird Mühe niemand so leicht folgen können. Diese Art von exzessiven Fremdheitsekstasen soll man darum nicht zu kopieren versuchen - und Wolfram Koch versucht es erst gar nicht. Doch scheint mir seine Art, den Text durch sich durchlaufen zu lassen, etwas zu konventionell-dramatisch. Das Tempo stimmt nicht, und da er zu langsam ist, erzeugt er nicht die Intensität, die der Text fordert. Ebenso Almut Zilcher in »Medeamaterial«. Das ist von höchstem Schwierigkeitsgrad, denn man darf diese Fußnoten zu »Medea«, diesen Essay gleichsam über die Tragödie und ihren Nachhall im Heute nicht aus seiner Fremdheit herausreißen, das Ansprechen geht in einen imaginären Raum, wendet sich gar nicht an Jason, der ist längst passé. Diesen Raum im Sprechen zu erzeugen, ist fast unmöglich - und darum Almut Zilchers Scheitern am Müller-Text eines auf hohem Niveau.

Worum geht es Müller in dieser Trümmerlandschaft aller bisherigen Tragödien im Lichte einer untergehenden Aufklärung? Um die scharfen Splitter in der Elefantenhaut des Zeitgeistes. Die Wiederkehr der längst vergangenen Geschichte wird zweifellos zum Totentanz. Müller: Beschwörer der Gespenster, der ruhlos umherirrenden, ungelebten Sehnsüchte und Träume.

Margit Bendokat ist das Ereignis des Abends: Sie spricht »Mommsens Block«, das ein Gedicht zu nennen durchaus falsch wäre, denn Müllers Text entzieht sich jeder gängigen Einordnung. Dies ist im Unterschied zu den anderen Texten des Abends aus den 1980er Jahren ein Nachwendetext von 1993. Der Historiker Mommsen kann den vierten Band seiner römischen Geschichte nicht schreiben - oder will er nicht? Stumm vor Verachtung über seine Gegenwart im Kaiserreich wie Müller über das neue vereinigte Deutschland? »Gestern beim Essen in einem Nobelrestaurant / zwei Helden der Neuzeit speisten am Nebentisch / Lemuren des Kapitals, Wechsler und Händler / Blätterte ich in den Mitschriften Ihrer Kollegs / Über die Römische Kaiserzeit frisch vom Buchmarkt.« Ein mehr denn je gültiger Text - und die Bendokat wird ihm jener Mund, nach dem er verlangt: sägende Sirene ebenso wie kühl protokollierende Berichterstatterin.

Was bleibt von all den Trümmern, die das nicht enden wollende Siegen aufhäuft? Bei Müller lesen wir es: »Nämlich die Gespenster schlafen nicht / Ihre bevorzugte Nahrung sind unsere Träume.«

Nächste Aufführung: 17. November

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