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Blinde Gefolgschaft bis ans Ende
Der Untergang des Nazi-Reiches - von Ian Kershaw brillant analysiert und erzählt
Kaum war Ian Kershaws Buch über das Ende des Nazireiches auf dem Buchmarkt, erschienen in Londoner Zeitungen Würdigungen der Arbeit des britischen Historikers. Sie stammten zumeist von renommierten Fachkollegen. Auch jenseits des Atlantiks gab es Lob. In der »New York Times« meldete sich James J. Sheehan zu Wort. Alle stimmen überein, dass diesem Werk, besondere Aufmerksamkeit zukommt und es in der Geschichtsliteratur einen herausragenden Platz beanspruchen kann.
Befragt, wie er auf den Gedanken kam, seiner inzwischen in 26 Sprachen übersetzten Hitler-Biografie eine Abhandlung über das Ende des Naziregimes folgen zu lassen, antwortete Kershaw, die Beschäftigung mit dieser Person habe ihn auf Fragen gestoßen, die er in den Arbeiten der Experten bisher nicht überzeugend beantwortet fand. Sie lauten im Kern: Warum folgten Millionen Deutsche ihrem »Führer«, so dass dieser den Krieg bis fünf Minuten nach zwölf führen konnte? Warum marschierten sie (wie manche von ihnen gesungen hatten) weiter, obwohl alles schon in Scherben gefallen war?
Nun haben Geschichtsforscher, das gilt namentlich für deutsche, diese Fragen keineswegs ignoriert. Das war schon deshalb nicht möglich, weil sich unter ihnen nicht wenige befanden, zu deren Biografien die Gefolgschaft gehörte, ob als Soldaten, Flakhelfer oder in der Hitlerjugend. Sie trugen zur Länge des Krieges bei, sei es auch nur durch das Sammeln von Altmaterial oder für das Winterhilfswerk.
Kershaws Thema beschäftigte auch schon seine Landsleute, die kämpfend durch Frankreich, Belgien und die Niederlande bis in den Norden Deutschlands vordrangen und sich fragten: »Wann hören die da drüben endlich auf?« Das fragten sich ebenso die Offiziere und Soldaten in der Roten Armee, während sie die deutsche Reichsgrenze überschritten. So hatten also schon vor Jahrzehnten Laien und Fachleute, Zeitgenossen und Nachgeborene zu ergründen gesucht, warum diese Masse der Deutschen, als der Krieg erkennbar verloren war, noch immer gehorchte, schoss, schuftete, starb und duldete und dieser Krieg so ganz anders zu Ende ging als der Erste Weltkrieg: 1918 hatten Soldaten sich geweigert, sich für eine verlorene Sache abschlachten zu lassen, Generäle Bankrott erklärt und das Staatsoberhaupt, der Kaiser, die Flucht ins neutrale Ausland angetreten.
Die Liste der Fragen, die Kershaw sich stellte und die sich aus der unstrittigen und bis in das Frühjahr 1945 währenden Massengefolgschaft herleitet, ist lang und richtet sich vor allem auf Voraussetzungen und Bedingungen, Motive und Triebkräfte, die dieses Verhalten bewirkten. Welche Rolle spielten die Drohung und der mörderische Terror, der nun zur Abschreckung wieder öffentlich praktiziert wurde, wie in den ersten Monaten des Naziregimes 1933 geschehen? Welcher Anteil ist dem Wunderglauben an eine Wendung des Krieges zuzumessen, bewirkt durch den Einsatz von »Wunderwaffen« oder den Zerfall der gegnerischen Koalition? Was trug zur weit verbreiteten Denkweise bei, in der für Alternativen kein Platz war? Was ist der verbreiteten Furcht vor dem »Tag danach« zuzuschreiben, geboren aus dem Wissen und Ahnen, was im Zeichen von Hakenkreuz und Totenkopf in Europa angerichtet worden war? Was der Angst der Nazibonzen, die wussten, dass auf sie eine Anklagebank wartete, auf manche der Galgen? Was war der Vorstellung geschuldet, es werde eine Rechnung zu bezahlen sein, gegen die jene nach 1918 verblasse? Wie weit wirkte das Horrorszenario, das die Nazi-Propaganda ausgemalt hatte, wonach die Kriegsniederlage das Ende der Deutschen und Deutschlands bedeute? Und immer wieder: Auf welchen Platz gehört hier Hitler?
Nach der im Verlauf von mehr als einem halben Jahrhundert geleisteten Arbeit einer internationalen Forscherzunft war nicht zu erwarten, das Kershaw neue Faktoren entdecken könnte, die erst den 8. Mai 1945 zum Datum des Kriegsendes in Europa werden ließen. Was sein Buch aber zu einem Meisterwerk macht, ist dreierlei: Erstens hat er die Wirkung und Wechselwirkung dieser Faktoren erfasst. Zweitens hat er die Dauer ihres Wirkens, ihre Gipfel- und Nullpunkte zu bestimmen gesucht. Und drittens ging er daran, ihr jeweiliges spezifisches Gewicht im Faktorenbündel auszumachen. Er hat dazu überzeugende Antworten vorgelegt.
Kershaw analysiert und erzählt Geschichte. Gelungen ist seine Darstellung auch, weil er sich strikt auf einer Doppelspur gehalten hat: jener, die durch die Herrschaftsstruktur des Regimes gebildet wird, und der anderen, die von der Mentalität der Akteure gezogen wurde, geprägt von deren Gedanken- und Gefühlshaushalt.
Kershaws Sache ist die Entwicklung seines eigenen Standpunktes, weniger die Polemik gegen andere. Wo notwendig, meidet er sie nicht, so gegenüber Versuchen, die Verantwortlichkeit für die Kriegsdauer aus der deutschen Geschichte in die der Antihitler-Koalition zu exportieren. Mehrfach argumentiert er gegen die These, es sei die Forderung nach »bedingungsloser Kapitulation« gewesen, die den Krieg verlängert habe. Gleichzeitig verweist er auf Fehler, die er in der Kriegsstrategie der Alliierten in West- und Osteuropa im letzten Kriegsjahr auszumachen glaubt. Das führt ihn in die Risikozone ungeschehener Geschichte und dürfte ohne Entgegnungen von Militärhistorikern nicht abgehen.
Zu den Vorzügen der Arbeit gehört, dass Kershaw sich der Gefahr vorschneller Verallgemeinerungen entzog und dort, wo er in der Literatur auf solche stieß, diese auch markiert. So unterscheidet er konsequent die von Traditionen, Ideologien, Einübungen geprägten Mentalitäten im höheren und niederen Offizierskorps sowie in den Beamtengruppen und erörtert den unterschiedlichen Grad ihres Einflusses, ihrer Macht, Verantwortung und Schuld. Für die Dauer dieses Krieges macht er nicht »die Deutschen« gleichermaßen und pauschalisierend verantwortlich, sondern in erster Linie die Eliten, von denen er die »normalen Deutschen«, die »einfachen Bürger« oder die »unteren Schichten« unterscheidet, ohne sie freizusprechen.
Das freilich muss hierzulande jenen missfallen, die bis heute den nationalen Rettungsschirm aufspannen, unter dem ganze Gruppen führender Zivilisten und Militärs hinreichend Schutz finden. So kündigte denn eine Zeitung des Typs, die solch unwillkommene Erkenntnisse im Lob erstickt, ein Interview mit dem Autor wie folgt an: »Warum hielten die Deutschen dem ›Führer‹ sogar noch die Treue, als der schon tot war?« Genau dieses Bild ist nicht der Befund des Autors. Missfallen dürfte in Neudeutschland auch, dass der Engländer nicht zu jenem hierzulande reichlich anzutreffenden Historikertyp gehört, der Forschungen vorsätzlich ignoriert, wenn sie in der DDR unternommen wurden.
Kershaw hat ein Buch vorgelegt, das zu vielem Nachdenken über Gegenwärtiges anregt, nicht zuletzt über vertane Chancen der Volksmassen, ihre Interessen durchzusetzen. Nun hat der Professor an der University of Sheffield erklärt, dass er sich von Hitler und dem mit dessen Namen verbundenen Kapitel deutscher Geschichte verabschiede. Nicht ganz, lässt sich risikolos voraussagen. Denn er hat eine Abhandlung über die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert in Angriff genommen; da wird er auf dieses und jenes zurückkommen müssen. Das neue Werk darf mit Spannung erwartet werden, zumal Kershaw angekündigt hat, sich auf das Bild vom »kurzen Jahrhundert« nicht einzulassen, sondern in den Ereignissen des 11. September 2001 eine Zäsur zu erblicken, die auch den alten Kontinent einschließt.
Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45. DVA, München 2011. 703 S., geb., 29,99 €.
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