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Tugendalles, Taugenichts
György Konrád beschreibt sich als Pendler
Essays sind, oft genug, Schriftstellers Trainingslager. Die so entstehenden Texte gleichen deshalb nicht gleich Abfallprodukten, aber es bleiben doch: Nebenschöpfungen. Und dennoch: Es gibt kaum eine wirklich gute, wirksame Essayistik außerhalb der Poetengilde. Die Analytiker weisen nach, die Dichter fühlen vor. Der Artikler benutzt Sprache, der Essayist gibt sich ihr hin; alles Wissen ist ihm Eingewobensein, nicht Präsentation. Was dem essayierenden Dichter staunend-denkend so alles widerfährt, das ergibt Worte, von deren Wahrheit er überrascht ist. Artikler sind nicht überrascht von dem, was sie schreiben: Sie finden nicht, sie zielen. Der Essayist dagegen findet: einen großen Kreis ums Ziel. Essayistik ist Abgrenzungsnoblesse gegen eine redaktionstägliche Sprachpflege. Pflege ist nicht Natur, Pflege läuft der Schönheit erheischend hinterher …
»Das Pendel« heißt das jüngste Buch des Erzählers György Konrád, es ist nicht nur Essay, sondern: Essaytagebuch. Der Ungar schaut auf sein Leben also nicht im Gestus einer konkreten Rekonstruktion zurück, nicht im Ton eines rein bilanzierenden Berichts, nicht mit dem Bewusstsein biografischer Abgeschlossenheit. Was in diesem Leben geschah, ist Prüfstoff für heutiges Handeln, ist Material für gegenwärtige Haltungen.
Die autobiografischen Betrachtungen Konráds kennen den Schmerz, geben aber die Freude am Leben nicht auf; sie tauchen tief in eine mit den Jahren gewachsene Skepsis, die sich jedoch nie in den Dunkelgrund der Resignation ziehen lässt. Dieses Buch lebt somit aus der Zuwendung zur tätigen Kraft eines Denkens, mit der eine Existenz täglich übersteigert werden kann.
Dies Werk, ein schriftliches Plaudern aus Romantik und Richtungserschrecken hin zum Tod, lässt vielfach jenen Mentalitätsneid wieder auferstehen, der zu Machtzeiten kommunistischer Parteien in Europa viele ergriff, wenn sie an Ungarn dachten: Bei den Magyaren waren die Erfahrungen der blutig niedergeschlagenen Erhebung 1956 offenbar so keck wie gründlich umgewandelt worden – in den listigen Charme von Lebenskünstlern, ins Genusstrotzige von Stoizisten und ins Schelmische von Geprügelten, die ihren Wundschock mit Witzen zu adeln vermochten.
Anders gesagt: An der Donau hätte der gestrenge, so kanontreu aufwallende und richtende Deutsche Idealismus nie eine Chance gehabt; das Dissidentische hatte im »Gulaschkommunismus« – bei aller Knebelung durch Zensur und handfestes Malträtieren durch Staates Organe – eine eigene kulturelle Kraft, eine bezwingend kühne Leichtigkeit; vor allem besaß die widerständische Intelligenz einen nahezu natürlichen, mehr und mehr offen fließenden Aderkanal zum Westen.
Davon erzählt der 1933 geborene Autor, jüdisch, später Präsident des Internationalen PEN-Clubs und Präsident der Akademie der Künste in Berlin. Er geht durch Städte und Stationen, er sinniert über Familie und weiterträumende Liebe; es ist eine Geschichte von Obsessionen der Aufrichtigkeit wie der listigen Anpassungen. Sympathisch: Konrád will, sich selber erzählend, Geheimnissen auf der Spur bleiben. Und er will dauern als Komödiant, und er kann es guten Mutes sein, denn sein Ton ist stets unangreifbar heiter und gewiss geblieben: Die Spitzel zum Beispiel – wie überall im Ostblock – waren gemein, aber hauptsächlich dumm, und Dissident wurde man auch aus intellektuellem Vergnügen, aus überschießendem Ironiegeblüt; die Angst hielt sich also in Grenzen, und wo man sie doch tief empfand, da war sie immerhin interessanter als eine Quälerei als Mitläufer, der sich noch bis vor den heimischen Toilettenspiegel als Idealist und Utopist kostümiert halten muss, um das Elend der gehorsamen Parteipraxis zu verdrängen.
Der Autor in einem Interview: »Nach 1956 unter János Kádár wurde man in Ruhe gelassen, man musste nicht politisieren, das Privatleben war privat und der Job sicher. Die Wirtschaft legte pro Jahr ein, zwei Prozent zu. Also übte man sich in Nachsicht und Geduld, baute sich ein Häuschen und kaufte sich einen Ostwagen. Das Sicherheitsgefühl war damals ebenso groß wie das Sicherheitsbedürfnis. Wenn es echte Wahlen gegeben hätte, hätte der Sieger Kádár geheißen.«
Dies ist der Realismus, der auch das Buch durchzieht: Da ist einer Tugendalles und Taugenichts, mal Aktivist, mal Passivist; er überwindet sich, er windet sich; raus aus den Kollektiven, rein in die Menschheit; »soweit wie möglich war ich stets bemüht, praktische Probleme von mir fernzuhalten ... kein Wollen, kein Krallen«, nur: schreiben; die Rolle des Kämpfers bewundern, sie selber aber vermeiden. Nach Lektüre dieses Buches schaust du noch gähnender auf Gesinnungsprinzipielle, die inzwischen ihre Kraft und Militanz just aus dem Genuss jener Welt beziehen, die sie bekämpfen.
Der Essay ist ein gefährliches Genre. Er verführt den Autor, das ihn augenblicklich Bedrängende hinauf ins Erhebliche zu deuten. Viele, sehr viele Schriftsteller der bürgerlichen Welt wurden durch diese Verführung freilich in ihrer zeitübergreifenden Gleichnisgabe bestätigt. Treusozialistischen Realisten jedoch blieb das vielfach versagt: Auch sie verfassten Essays, mussten nach 1989 aber erkennen, dass es nur vergängliche Leitartikel waren.
Auch darüber schreibt Konrád: über die Gabe, einer gesellschaftlichen Hingabe letztlich aus Instinkten der Beweglichkeit und aus Festlegungsscheu stets ausgewichen zu sein. Sein Ort war, ist und bleibt der Fluchtpunkt – und das paradoxerweise aus tiefer Sehnsucht nach Teilhabe. Aber just weil diese Sehnsucht so tief war, verhinderten Maßstab und Anspruch seit jeher eine ideologische Anbindung.
»Ich schleppe mich über einen staubigen Gehweg und schwebe über ihm«, heißt es an einer Stelle. Das ist Konráds Lebensart – eine Mischung aus unsentimentalem Wirklichkeitssinn und frechem Spiel der Fantasie.
Das Leben, sagt der Autor, »verdient meine Liebe«, es ist »durchtrieben«, dieses Dasein, und jeder Überlebende sei dessen »Komplize«. Der Mensch als Gauner und Gourmet, Günstling und Gaukler, Gestoßener und Galan.
»Der pendelnde Standpunkt als eine am ehesten zum Ziel führende Methode des Verstehens.« Den Blick an dem einen, dann wieder an einem anderen Standpunkt schärfen – das ist für Konrád die Ausbildungslogik, die in den Dingen des Lebens auf die unweigerlichen Wechselfälle vorbereitet. In diesem Sinne ist dies ein beruhigendes, ein besänftigendes Buch.
György Konrád: Das Pendel. Essaytagebuch. A. d. Ung. v. Hans-Henning Paetzke. 200 S., geb., 19.90 €
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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