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Der »ganz normale« atomare Wahnsinn

Elisabeth Filhol ist mit »Der Reaktor« ein tief berührender Roman gelungen

  • Lilian-Astrid Geese
  • Lesedauer: 3 Min.

In der Ukraine, wie anderswo … an diesem letzten Sonntag im April.« Mindestens eine Generation wird, wenn sie diese Worte liest, die gleichen Gedanken im Kopf haben. 25. April 1986, Tschernobyl, der GAU, der, wie kaum eine andere Katastrophe in der Geschichte zeigt, dass es keine sichere (Atom-)Technologie geben kann, solange Menschen ihre Finger im Spiel haben. Und dass somit Technik nie sicher ist, da es immer Menschen sind, die sie machen.

In ihrem in Frankreich hochgelobten Debüt »Der Reaktor« beschreibt die 1965 geborene Wirtschaftswissenschaftlerin und Betriebsratsberaterin Elisabeth Filhol auch die letzten Stunden im explodierten sowjetischen Atommeiler. Eingebettet in eine packende Doku-Fiction, die man sonst eher im Kino oder auf ARTE erwartet. Ein Roman, der näher an der Realität nicht sein kann. Erzählt in der ebenso nüchternen wie bewegenden Sprache der Reportage.

Yann ist Zeitarbeiter und verdient sein Geld, abzüglich der Kosten für Sicherheitsschulungen, als Aufräumer und Ausputzer bei den jährlichen »Revisionen« der AKWs in Frankreich. Bis er eines Tages eine zu hohe Strahlendosis abbekommt und für den Rest der Saison ausfällt. Dennoch zieht er mit der Karawane seiner ebenso prekär beschäftigten Kollegen weiter. Man teilt sich zu viert die 34 Quadratmeter eines Mobilhomes auf dem Campingplatz oder investiert in einen Wohnwagen. Man reist von Reaktor zu Reaktor, blendet die Gefahr aus, redet sich ein, die Dekontaminierung des Kühlturms sei nichts anderes als die Arbeit in der Wurstfabrik. Man nimmt die Selbstmorde derjenigen hin, die nicht mehr können, doch den Mut zum Ausstieg nicht finden. Loïc, Yanns bester Freund, ist einer der drei Fälle in dieser Saison.

Der Weg vom Leben in den Tod scheint für diese Männer (und Frauen) nicht weit. Im Grunde sind sie Untote, wie Filhol gerade durch ihren distanzierten Stil so eindringlich vermittelt. Die Bilder (und Interviews) über den »ganz normalen« atomaren Wahnsinn der Arbeit in den AKWs, die Volker Sattel in seinem Anfang 2011 präsentierten Dokumentarfilm »Unter Kontrolle« lakonisch montierte, evoziert auch Filhol in ihrem Roman. Der dürfte in Frankreich, wo die nuklearen Desaster der vergangenen vierzig Jahre, von Windscale und Sellafield, Harrisburg und Tschernobyl bis hin zu Fukushima weitgehend ignoriert wurden, doch den einen oder anderen aufgerüttelt haben. 59 Reaktoren gibt es dort, überwiegend jenseits der bekannten Pfade, in der Nähe kleiner Städte, die außer den Aktivisten der europäischen Anti-AKW-Szene kaum jemand kennt: Chinon, Tricastin, Fessenheim …

Um zu erinnern, dass wir alle die Folgen der nuklearen Energieerzeugung tragen, muss Elisabeth Filhol nicht den pädagogischen Zeigefinger heben. Sie macht es subtiler: Als Bernard, der junge Kollege, gleich am ersten Tag aussteigt – und alle ahnen, dass auch er sich umbringen wird –, sind sie nicht sauer, weil er in den Tod getrieben wird, sondern weil die berechnete theoretische Höchstdosis nun von zwei statt von drei Arbeitern getragen werden muss. – Die berechnete, theoretische Dosis, wohlgemerkt.

Da zu arbeiten, um zu leben, wo man stirbt, weil man arbeitet, ist absurd. Filhols Roman schockt in seiner existenzialistischen Nüchternheit, wenn er genau das beschreibt. »Der Reaktor« berührt tiefer als jedes Weltuntergangsszenario »made in Hollywood«. Nicht nur, weil die Katastrophe hier Wirklichkeit ist.

Elisabeth Filhol: Der Reaktor. Roman. A. d. Franz. v. Cornelia Wend. Edition Nautilus, 122 S., geb., 16 €

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