Elfmal Sibirien und zurück

Geschichte des Klimas und der Umwelt

  • Gert Lange
  • Lesedauer: 8 Min.
An den sibirischen Küsten entnehmem Paläo-Klimaforscher aus sogenannten Eiskeilen Proben, in denen die Umweltgeschichte der letzten 25 000 Jahre gespeichert ist. Lutz Schirrmeister: Alles muss festgehalten werden.
An den sibirischen Küsten entnehmem Paläo-Klimaforscher aus sogenannten Eiskeilen Proben, in denen die Umweltgeschichte der letzten 25 000 Jahre gespeichert ist. Lutz Schirrmeister: Alles muss festgehalten werden.

Jakutsk steht nicht auf der elektronischen Ankunftstafel des Airports in Berlin. Die Hauptstadt der autonomen russischen Republik Jakutien. Aber Moskau, etwas verspäteter Anflug. Wir erwarten die Wissenschaftlergruppe, die es für viele Wochen weit in den Osten Sibiriens verschlagen hat. Die Tür geht auf. Zwei Rollis, vollgepackt mit Seesäcken, prallen Reisetaschen, Kraxen. Hallo und Hey! Umarmungen. Unter den Rückkehrern Lutz Schirrmeister. Ein Robin-Hood-Gesicht in Wiedersehensheiterkeit. Es war seine elfte Sibirienexpedition.

Was treibt einen Menschen wieder und wieder nach Sibirien? Zumal in diese flache, gegenüber unserer Mittelgebirgsidylle doch recht eintönige Tundralandschaft? Durch Schlamm zu waten, mit klammen Fingern im Eis zu bohren oder sich von Mückenschwärmen piesacken zu lassen - das kann doch nicht die wahre Freude sein. Ist es der Ehrgeiz? Die Not, als sogenannter Experte immer an vorderster Front zu wirken?

Das bestimmt nicht, sagt Schirrmeister, schon am nächsten Tag wieder im Institut auf dem Potsdamer Telegrafenberg. »Und nach der ersten Expedition hatte ich die Schnauze voll. Nicht wegen der körperlichen Anstrengungen. Aber wenn man wochenlang in einer kleinen Gruppe lebt, jede Handlung wird bemerkt, jedes Wort kommentiert, man hat fast keinen individuellen Bereich - das ist psychisch kräftezehrend. Es gibt ja auch mal Krach oder Missverständnisse, aber keiner kann aussteigen.«

Nach etlichen Tagen klinge der Frust ab und schon bald kitzle einen wieder die Sehnsucht nach dem Norden. Das sei normal, befindet Schirrmeister; jede Expedition zeige in der Auswertung auch Lücken, rege zu neuen Ideen an, und kaum zieht der Herbst übers Land, fragen die Kollegen: Wann geht es wieder los? Der unternehmungslustige Polarforscher streitet gar nicht ab, dass diesen Feldeinsätzen auch eine gewisse Exotik anhafte. »Du kommst in eine Gegend, die du selbst unter exklusiven touristischen Bedingungen nie erreichen könntest. Inzwischen hat man Freunde kennengelernt, mit denen man gern zusammenarbeitet. Es herrscht eine unglaubliche Toleranz und Hilfsbereitschaft; ohne die wäre jede Expedition zum Scheitern verurteilt. Vor allem: Du bist ganz konzentriert auf den eigentlichen Forschungsgegenstand, die Eisaufschlüsse an den Küsten, die gefrorenen Bodensedimente, das alles ist extrem spannend.«

Die erste Reise führte Lutz Schirrmeister auf eine Halbinsel in der Laptewsee. »Wenn ich daran denke, kribbelt es mir immer noch über den Rücken. Du fliegst über die weite Tundra, alles grün, mit tausenden großen und kleinen Seen darin, riesige Flussschleifen. Du siehst über weite Flächen ein Netz von Frostrissen, die manchmal ein quadratisches Raster ergeben und die du bisher nur aus der Fachliteratur gekannt hast - überwältigend!«

An der Seite einer überaus kompetenten, umsichtigen, trotz ihres Renommees bescheidenen Kollegin, der Geokryologin Christine Siegert, erschließt sich Lutz Schirrmacher die Geheimnisse der sibirischen Frostmusterböden. Siegert hat über zwanzig Jahre lang am Permafrostinstitut in Jakutsk gearbeitet und war in den neunziger Jahren dabei, an der Forschungsstelle Potsdam des Alfred-Wegener-Instituts (Hauptsitz Bremerhaven) die Permafrostforschung zu profilieren. Seit uns das Menetekel des Klimawandels beunruhigt, wird auch der Permafrost von den Wissenschaftlern »gezählt, gezählt, gewogen und zerteilt«. Der dauerhaft gefrorene Untergrund entstand in der Eiszeit und bleibt auch nur unter weiterhin kalten Klimabedingungen bestehen. Regional unterschiedlich von nur inselhaft bis kontinuierlich verbreitet, nimmt er etwa ein Viertel der Landoberfläche der Erde ein.

Uns selbstsicheren, bodenständigen Warmduschern kaum vorstellbar: Dieser Untergrund besteht im arktischen Tiefland oder in Küstenbereichen zur Hälfte aus bloßem Eis. Er speichert erhebliche Mengen an organischer Substanz. Wenn Permafrost taut, beginnen Mikroben ihr Zersetzungswerk, dann entweicht das Treib- hausgas Kohlendioxid in die Atmosphäre. Auch Methan, das bis zu dreißig Mal stärker die Wärmeglocke der Erde aufheizt als Kohlendioxid. Wie hat sich früher der Permafrost in wärmeren Klimaprioden verhalten, wie verändert er sich heutzutage? Schicksalsfragen für Millionen Menschen, die unmittelbar betroffen sein können.

»Und was heißt langweilige Landschaft?«, fragt Lutz Schirrmeister. »Es ist eine außergewöhnliche Landschaft, die sich unter bestimmten klimatischen und geologischen Bedingungen geformt hat und die es nur dort gibt, in Sibirien oder Alaska. Die Wüsten nennst du doch auch nicht langweilig. Man muss nur das Besondere zu sehen und zu schätzen wissen.«

Aufgeschlossenheit«, er sagt es mit einem dankbaren Lächeln, »ist ein Tribut meinen Eltern gegenüber.« Die Mutter Geologin, der Vater Geologe; sie arbeiteten am damaligen Zentralen Geologischen Institut der DDR. Nicht dass er viele Steine zu Hause gesehen hätte. Aber der Gedanke, sich mit dem zu beschäftigen, was der Mensch normalerweise am wenigsten beachtet, den Erdboden unter unseren Füßen, dieses Bestreben gab ihm Richtung und Ziel.

Nach dem Studium und der Promotion in Greifswald rief die Humboldt-Universität Berlin den Absolventen ans Geografie-Institut. Damit betraut, künftigen Erdkundelehrern einige irdische Grundlagen ihres Faches beizubringen, unternahm er viele Exkursionen ins Umland. Brandenburg, ein Erweckungserlebnis! Dem, der die Augen offen hält, liegen die Relikte mehrerer Eiszeiten quasi vor der Tür. Hier sahen sie Moränen einstiger Gletscher, die heute als sanfte Hügel in der Landschaft liegen. In den Kalksteinbrüchen von Rüdersdorf gibt es Reste sogenannter Eiskeile: trichterartige Formen mit Ablagerungen, die vor Jahrhunderten in Frostspalten versunken sind. Im Fläming kann man Windkanter finden, Steine, deren Flächen im Ödland vor den Gletschern von Sandwinden glatt geschliffen wurden. Nichts ist so besonders und in seinen Besonderheiten so nahe wie die gewöhnliche Umgebung.

Fantastische Bilder blendeten sich ein, wenn Schirrmeister die Frühgeschichte Brandenburgs erforschte: wie eine Permafrostlandschaft aussehen könnte. Dass er selbst einmal solchen Boden betreten würde, konnte er sich zu dieser Zeit nicht vorstellen. Eine erfolgreiche Bewerbung an der Forschungsstelle in Potsdam ermöglichte es ihm zehn Jahre später, seine Kenntnisse über das Quartär, die jüngste Phase der Erdgeschichte, anzuwenden, und das Abenteuer begann nicht mit dem Helikopterflug über die Tundra, sondern mit dem Beschaffen der Ausrüstung und dem Verteilen von Marmeladengläsern, Fleischkonserven, Kartoffeln, Hygienear- tikeln ... auf die Expeditionsgruppen in einem Flur des St. Petersburger Arktis- und Antarktisinstituts.

Landung zumeist im fernen Tiksi an der Laptewsee. Von dort ging es mit dem Schiff ins Lenadelta, mit dem Hubschrauber ins Werchojanski-Gebirge nach Süden oder noch weiter gen Osten, zu den Neusibirischen Inseln. Mit einer andere Expedition erreichte Schirrmeister den Meteoriten-Kratersee Elgygytgyn auf der Tschuktschenhalbinsel, wo eine internationale Tiefbohrung das »am weitesten zurückreichende«, 3,6 Millionen Jahre erfassende Klimaarchiv der Arktis erschließen soll, wie es in einer Pressemitteilung heißt.

Vor Ort heißt es zunächst: Die Existenz sichern. Das Lager aufbauen. Küchendienst organisieren, Toilette einrichten, Messgeräte installieren - der Tag kann nicht lang genug sein. Aber es ist ja 24 Stunden hell.

Dann geht es ins Gelände, zu den »Archiven«. »Unser Ziel ist die Rekonstruktion der vergangenen Umwelt aus den Spuren, die sie im Permafrost hinterlassen hat«, erklärt Lutz Schirrmeister. Dass die arktischen Regionen besonders empfindlich auf Klimaveränderungen reagieren, ist inzwischen bekannt. Aber die wenigen langfristigen Messreihen reichen nicht aus, um die Umweltgeschichte zu rekonstruieren und daraus Trends für die Zukunft abzuleiten. »Deshalb suchen wir nach Klimaänderungen, die sich in der Zusammensetzung des Eises und der Sedimente zu erkennen geben und schauen auf die organischen Relikte, Pflanzenreste, Pollen, Tierfossilien.« Natürlich braucht es für diese Dinge Spezialisten. Manche befassen sich mit Kieselalgen, andere mit kleinen Muschelkrebsen oder mit den eiszeitlichen Säugetieren, wieder andere erforschen die gegenwärtigen Veränderungen im Permafrost.« Lutz Schirrmeister untersucht die Sedimente und das Eis, bemüht sich, das alles zusammenzutragen und, wie er verschmitzt sagt, »daraus eine Geschichte zu machen.«

Eine spannende Episode in seiner »Geschichte« sind die Eiskeile. Sie bilden sich in Frostspalten, die im Winter aufreißen und im Sommer Schmelzwasser aufnehmen, das in der Tiefe sofort gefriert. Über Jahrhunderte diesem Wechsel ausgesetzt, werden die Eiskeile immer dicker, reichen in immer größere Tiefen. An der Küste der Laptewsee sind die Steilwände solcher Eiskomplexe, die das Meer freispült, bis zu 40 Meter hoch. Um im Sommer aus der glitschigen, tauenden Eiswand Proben zu gewinnen, sind drei, manchmal vier Leute erforderlich. Mit Spaten, Hämmern, Säge, Bohrern, Eimern und Beuteln für das Sediment gehen sie zu Werke. Stehen unten im Schlamm, schlagen oben Stufen ins Eis oder steigen auf eine nicht sehr Vertrauen erweckende, aus Holzresten zusammengenagelte Leiter. Nach wenigen Stunden rinnt den Männern der Schweiß bis in die Watstiefel. »Daher habe ich zu jedem Gramm Probe, das wir in den Laboren untersuchen, ein sehr inniges Verhältnis«, sagt Lutz Schirmeister. »Denn es ist doppelt wertvoll: Einmal ist es sehr alt und stammt aus unzugänglichen Regionen, zum anderen ist es unter Aufbietung aller Kräfte gewonnen.«

Und überall im kurzen Sommer taut es. Grasbatzen, Sedimentklumpen brechen herab. Man hört es klatschen und kleckern. Mehrmals müssen sich die Wissenschaftler gegenseitig aus dem Schlamm ziehen. Rutscht ein Wandstück nieder, ragen Mammutknochen aus der Erde. Gegen Ende der Expedition hat sich meist ein beachtliches Skelettdepot angesammelt von Pferd, Rentier, nordischer Antilope, Bison, Polarlöwe... »Wir müssen in der Vergangenheit lesen, um die Gegenwart zu verstehen und um abschätzen zu können, was uns in der Zukunft erwartet«, sagt Lutz Schirrmeister. Polarforschung - philosophisch gesehen.

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