Die Erotik der Langsamkeit

Berliner Schaubühne am Lehniner Platz: »Eugen Onegin« - ein Theaterabend ohne Seinesgleichen!

  • Ekkehart Krippendorff
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Bühne der »Schaubühne Berlin« ist in ihrer ganzen Breite eine große epische Szene: Biedermeier-Mobiliar, Polstermöbel, ein Bett, viele Kissen, Bücher überall, Bilder (darunter eines von Alexander Puschkin subtil angeleuchtet), Türen, durch die die fünf Protagonisten - drei Männer und zwei Frauen - in Alltagskleidern ihre jeweiligen Räume in dieser langgestreckten Wohnlandschaft betreten und es sich bequem machen.

Einer von ihnen, der Diener (Robert Beyer), beginnt zu sprechen, zu erzählen von Puschkin und »Eugen Onegin«, diesem »Roman in Versen«, der Geschichte eines Dandys in der russischen Adelsgesellschaft, ein gelangweilter Typ und »überflüssiger Mensch« (Tilman Strauß), in den sich eine der Töchter des Hauses, Tatjana (Luise Wolfram), verliebt und diese Liebe in einem der großen Liebesbriefe der Weltliteratur bekennt (von Tschaikowski doppelt unsterblich gemacht) - aber sie wird nicht erwidert.

Zwei Jahre später wird es umgekehrt sein - aber nun für beide zu spät. Dazwischen liegt eines dieser absurden aber zeitüblichen Ehrenduelle, das für Lenskij (Sebastian Schwarz), den Liebhaber der Schwester Olga (Eva Meckbach), tödlich ausgeht. Das ist im Grunde alles an Handlung. Aber welch ein Drama, welch ein Sprach- und Seelenkunstwerk, welch ein Epos der verklemmten und doch großen Gefühle, welch ein Gesellschafts-Panorama! Für das dieser wohl größte Dichter russischer Sprache mehr als hundert Personen erfand und zum Leben erweckte, die eine geniale dramaturgische Bearbeitung (Carola Dürr, Florian Borchmeyer) und eine ganz auf epische Ruhe und Unaufgeregtheit setzende wunderbare Regie (Alvis Hermanis) in fünf Personen atmosphärisch verdichtet: Ein Theaterwunder!

Theater im Theater: Langsam, geradezu handwerklich werden die Protagonisten vor unseren Augen zeitgemaß eingekleidet in Schnürmieder, Unterwäsche, werden biedermeierlich mit Fracks, Perücken und Zylindern ausgestattet, in ihren Rollen kenntlich gemacht: Wir sind in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, und diese Verkleidungen sind zugleich Metaphern für die eingeschnürten Seelen.

Wenn Onegin sich seinen leidenschaftlichen Liebesantrag an die inzwischen verheiratete und darum äußerlich gegen die Welt der Gefühle gefeiten Tatjana von der Seele schreibt, dann entledigt er sich gleichzeitig Schicht um Schicht seiner psychischen Gefängniskleidung. Aber selbst dieser bewegende Kontrapunkt zu Tatjanas berühmtem Brief wird nur durch subtile Lichtregie (Erich Schneider) hervorgehoben ohne falsche Lautstärke.

Wir erleben eine poetisch-gestische Erotik der Langsamkeit, die selbst in einem gebogenen Tischbein stecken kann - Szenen, die kommentiert werden durch projizierte Gemälde aus der romantischen Schule der Zeit, die im Kontext dieser Erzählung das Schwülstige ihrer Bildsprache verlieren.

Dieser »Onegin« ist ein Meisterwerk der Regie epischen Theaters, an dem das Bühnenbild (Andris Freibergs) eine kongenial mitsprechende Rolle spielt. Man gehe hin und staune, dass solches Theater noch - oder wieder - möglich ist.

Nur eine Anmerkung kann der Kritiker nicht unterdrücken: die mangelnde Sprechkultur - schon in der siebenten Reihe konnte man die Hälfte des Textes oft nur mit großer Mühe verstehen. Aber vielleicht will und soll diese Dichtung (in der elegant klingenden gereimten Übersetzung von Ulrich Bush) nun auch gelesen werden.

Es scheint dem Kritiker ein gutes Zeichen für trans-kulturelle Kommunikation, dass man im Theater viel russisch sprechen hörte.

Nächste Vorstellungen am 26. und 27. Dezember

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