»Jochen Schanotta« am DT: Da will einer nur raus!
Mittelmaß rettet Leben. Allein schon unsere Körpertemperatur. Absolute Mitte. Schon wenige Grade Steigerung brächten das Ende. Erhitzung schadet. Brodeln beutelt - in Richtung Siedepunkt breitet sich die Todeszone aus.
Jochen Schanotta, der junge DDR-Mensch, empfindet das Mittelmaß als Pein, dieses dauernde kleine Beigeben, diese unheroischen Versöhnungen mit der Wiederholungsschleife Alltag, dieser ständige Friedensschluss mit den Gewohnheiten, dieser anerzogene Einordnungsreflex in die Ungefährlichkeiten einer nur arbeitsamen Existenz. Lauwarm, kitzelfrei, in der Seele kein Sandsturm, kein Eiswind, keine prasselnde Leidenschaft, kein zischender Hass, keine lodernde Freude, keine stechende Bosheit, keine wegtreibende Seligkeit. Nur immer Verträglichkeit; immer am Platze, nie mal am Platzen.
Der Achtzehnjährige: raus aus der Schule, weg von der Mutter, hin zu Klette, der jungen Arbeiterin; sogar ein Versuch als Werkhallenmensch - nein, dann doch lieber Taugenichts. Plötzlich die Einberufung. Nein!, da wird er nicht hingehen. Komme, was da wolle! Sie werden es sein, die kommen, die Fänger, die Ordnungshüter, die Verhörer, die Wegsperrer, die Staatshalter.
Der Schauspieler Andreas Döhler ist Schanotta, und er hat eine mitreißende Grummeligkeit, ein immer dicht an der Heiserkeit hausendes Timbre, das sanft und tapsig sein möchte, aber doch so überfordernd oft Schrei sein muss. Schrei gegen die Welt des fürsorglichen Biedersinns, der harschen Disziplinierung. Gegen dieses nervende »Wir wollen doch nur dein Bestes!« entwickelt Döhler - im Schmerz komisch, in der Wut weich, im Trotz ohnmächtig, in der Liebe herrisch - ein konsequent störrisches Igel-Gemüt, das trotzdem kreatürlich unbeholfen und schüchtern, ja unschuldig wirkt. Döhler brüllt mit den Armen, und seine Worte spannen die Muskeln. Dann wieder wird er zum Kabarettisten seiner eigenen Lage, zieht sich die Jeans fast unter die Achseln, Hände und Hirn an der Hosennaht: der neue Mensch, folgsam bis zur Selbstverbiegung. Schanotta hält das nur Sekunden aus.
Jochen Schanotta ist der Titelheld im Stück von Georg Seidel, 1985 uraufgeführt am Berliner Ensemble, unter der Intendanz von Manfred Wekwerth. Der Autor, 1945 geboren, 1990 gestorben, hat den NVA-Wehrdienst ebenfalls verweigert, wurde vom Studium entfernt, rettete sich ins Theater. Sein »Schanotta« ist ein gehetzt atmendes Stationenstück: Zuhause, Ausbildung, Disco, Fabrik, Nacht unter Sternen - ein Junge in jenem Kreis, der keinen Anfang, kein Ende hat, im Land, das mit Draht umwickelt ist, »damit es nicht auseinanderfällt«. Draht, schreibt Seidel, um Stacheldraht nicht schreiben zu müssen.
Volker Brauns Kipper Paul Bauch, ebenfalls lebend »im langweiligsten Land« der Welt, war noch ein vertrackt fantasievoller, grübelnder Utopist, Ulrich Plenzdorfs Edgar Wibeau ein unbekümmerter Aktivist des Romantischen - Seidels Schanotta dagegen ist der in der Verzweiflung angelangte Nichtkämpfer, ein Anwalt der heilsamen Abgesänge. Aber doch ein anrührendes Warmherz.
Im Nachhinein wirkt sie so verspießert lächerlich, die Pressekampagne gegen Seidel, damals im März 1985, es waren nur noch wenige Tage bis zur Inthronisation Gorbatschows. In den Angriffen auf Autor und Titelgestalt fauchte eine Struktur, peitschte ein Dogma, da betrieb ein immer kälter und lebloser werdendes Regime sein Erziehungswerk, seinen Tempolauf in die Agonie.
ND schrieb von der »Gammeltour« Schanottas »durch unsere Wirklichkeit«, schrieb von Seidels »Ahnungslosigkeitsdramaturgie«, von »beschränkter Sicht«, die für die »Darstellung unserer Wirklichkeit inkompetent« mache. Es wäre doch darum gegangen, so meinten wir damals, diesen Schanotta in »Verlegenheit« zu bringen - »welche komischen Szenen ließen sich aus dem heilsamen Aufeinandertreffen einer solchen verbiesterten Seele mit schöpferisch tätigen Menschen gestalten!« Das war der ewige Gegner: das sich selber ungewisse Ich, das systemunkompatible Wesen, der Funktions-Untüchtige in jenem Versuch, Menschen für einen großen gesellschaftlichen Parteiauftrag zu gewinnen.
Das war die DDR. Erledigt. Aber auch weit weg? Nein. Frank Abt hat in den Kammerspielen des Deutschen Theaters »Jochen Schanotta« inszeniert (Bühne: Anne Ehrlich), und alles wirkt noch sehr akut. Es darf dabei an einen Aufrüstungstext aus der Kirchengeschichte gedacht werden: »Achtet um eures Lebens Willen sehr darauf, dass ihr den Herrn liebt.« Dieses gebietende: Achtung! Das ist es. Leistung! Dienst! Befehl! Zuerst wurden damit Heere ausgestattet, dann Firmen, dann das Ich. Eine lange Geschichte, die Geschichte der Gattung - und doch ein kurzer Weg ins marktharte Heute. Man weiß nicht, wer unglücklicher ist: jener, der schweißkalt in der Karriere steckt, oder jener, der in der Freiheit erfriert. Schanotta ist denen ein Aufrührer, die noch immer nicht »Nein!« sagen können. Es nicht sagen dürfen um den Preis ihres halbwegs gesicherten Lebens.
Abt inszeniert, als schaue er dem Stück zu, wie es sich spielend ausbreitet. Das Geradlinige ist stets auch das Schlichte, ja, aber so rückt der alte Text überraschend nah heran: Prüf mich, ob ich noch gelte. Er gilt, ohne dass die Regie Ausrufezeichen verteilen muss; er plädiert für das Ziellose, den Ursprung aller Anarchie. Die beginnt beim Tritt auf die Bremse, ehe man mit den Reifen runter ist.
Fünf Schauspieler sitzen im Hintergrund, kommen zur jeweiligen Szene nach vorn, nur Döhler ist ständig in Bewegung. Natali Seelig ist Schanottas Mutter, unglücklich zwischen Schutzbedürfnis, haltungfordernder Strenge und eigener Existenzöde. Daniel Hoevels' Lehrer skizziert, mit einem Anflug von Trauer, jene bürokratische Beflissenheit, die Mensch sagt, aber Kader meint. Und Kathleen Morgeneyer ist weh, wund, kindlich-eckig wild jene Klette, schmächtige Fließband-Fee - bei der bis zum Schluss unklar bleibt, ob sie Schanotta auffängt oder er sie abstürzen lässt.
Dieser Schluss: das Wandsegment, das unter zahlreichen Trautes-Heim-Lampen mitten auf dem Spiel-Feld steht und auch Mauersegment sein kann - es ist nun tapeziert; auf engstem Raum schmiegen sich Klette und Schanotta, der NVA-Verweigerer, sie lieben und flehen sich Mut an, für den Moment, da die Polizei kommt, beide bereit zum Schrei - mehr hat der verletzte, ohnmächtige Mensch nicht.
Aber wie viel ist das doch! Ein Blick rundum reicht: so zahlreiche unsichtbar blutende Münder - die geschäftig lächelnden sind am blutigsten. Harte Arbeit, sich fortwährend auf die Zunge beißen zu müssen.
Nächste Vorstellung: 2. Januar
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