Das schlaflose Superhirn

Robert Harris ist mit seinem Thriller »Angst« nah an Börsennachrichten - und dicht bei le Carré und Orwell

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 5 Min.
Angst
Angst

Eigentlich gut, dass die Menschen unser Bank- und Geldsystem nicht verstehen. Würden sie es nämlich, so hätten wir eine Revolution vor morgen früh.« Es ist eine Weile her, dass Henry Ford (1863 - 1947) dies sagte. Deshalb darf man einräumen, dass das Zitat zwar immer noch überzeugt, verbreitetes Wissen und erst recht Verstehen aber arg langsam wachsen. Hinzu kommt, dass sich in der Führung von Bank-, Börsen- und Spekulationsgeschäften seit Fords Zeiten technisch ein paar Dinge verändert haben, die das Verständnis fürs Wesen der Gewinnsucht - Rettungsschirme hin oder her - eher verdunkeln als erleuchten.

Hier kommt das jüngste Buch von Robert Harris ins Spiel. Es beschäftigt sich mit gegenwärtigem Finanzmarktgebaren und hat folglich den Namen Thriller verdient. Der Brite (54) befasst sich in seinen erfolgreichen Romanen seit zwanzig Jahren mit den Verlockungen, Verführungen und Verstrickungen der Politik in Antike wie Gegenwart. Zuletzt (2009) war es »Titan« als Teil zwei seiner Cicero-Trilogie. Davor der von Polanski verfilmte Politthriller »Ghost« (2007), mit dem der promovierte Cambridge-Absolvent und einstige Reporter großer britischer Medienhäuser seinem vormaligen Objekt der Verehrung, Tony Blair, ein Denkmal seiner folgenden Enttäuschung setzte.

Nun hat sich Harris wieder einem zeitgemäßen Stoff zugewandt - dem Abbau von Demokratie durch die Bank-und-Börsen-Krake. Harris machte dabei nach eigenen Worten die Entdeckung, dass noch so abgefahrene Fiktionen keine Garantie dafür sind, nicht vor der Wirklichkeit zu verblassen. Der Autor erkennt eine immer schroffere Diktatur des Finanzsektors. »Es ist eine geschlossene Gesellschaft«, sagt er, »und wenn mein Roman eine Botschaft hat, dann die, dass die Finanzwelt nicht mehr auf irgendeine demokratische Weise unter Kontrolle ist, sondern in einer Parallelwelt neben der Menschheit existiert. Und dass selbst die Leute, die in dieser Welt arbeiten, sie nicht mehr verstehen.«

Letztere Aussage berührt den Handlungskern von »Angst«: Der US-Physiker Alexander Hoffmann, lange im Europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf am Aufbau des neuen Teilchenbeschleunigers tätig, hat sich selbstständig gemacht. Mit seinem Partner, einem britischen Investmentbanker und charismatisch-gerissenen Verkäufer, betreibt Hoffmann von Genf aus einen traumhaft profitablen Hedgefonds. Aus dessen Erlösen erwarben er und seine Frau selbst ihre 60-Millionen-Dollar-Immobilie mit einer für ihn nach Jahren noch unbekannten Zahl an Zimmern.

Hoffmanns Hirn hat ursächlich mit Finanzwesen und Börsenspekulationen so wenig zu tun wie ein Hund, der erst durch sein Herrchen Kampfhund wird. Der Physiker entwickelt einen Algorithmus, also eine Folge von exakten, mit einem Computer umsetzbaren Arbeitsanweisungen zum Lösen einer Rechenaufgabe in festgelegten, wiederholbaren Schritten. Die Rechenaufgabe, hier rückt das Profitstreben ins Bild, besteht darin, den weltweiten Wertpapierhandel so zu raffinieren, dass der Hedgefonds von Hoffmann und Partner gegen Schwankungen, Unwägbarkeiten und andere Anfechtungen geschützt wird.

Hoffmanns hochgeheime Software VIXAL-4 verknüpft klassische Marktbeobachtung mit künstlicher Intelligenz und kalkuliert - dies ist neu - Angstparameter ein. Das heißt, VIXAL-4 speist sich nicht nur aus harten, sondern ebenso aus weichen Faktoren, die den Einstieg oder die Flucht von Dealern aus Aktien beeinflussen.

Dr. Hoffmann, der Physiker, versucht, mit seinem Hedgefonds die Welt der Wahrscheinlichkeit hinter sich zu lassen und, indem er Angst als wichtigen Motivationsfaktor für Kauf- und Verkaufsentscheidungen in seinen Algorithmus einbaut, eine Welt der Erfolgsgewissheit an deren Stelle zu setzen. Harris lässt Hoffmann sagen: »Historisch betrachtet, ist Angst die stärkste Emotion in der Wirtschaft. Erinnern Sie sich an Franklin D. Roosevelt in der Großen Depression? Von ihm stammt das berühmteste Zitat der Finanzgeschichte: ›Das Einzige, wovor wir Angst haben müssen, ist die Angst selbst.‹ Angst ist wahrscheinlich die stärkste menschliche Emotion. Wer ist schon jemals morgens um vier aufgewacht, weil er überglücklich war?«

Vom Plot nur so viel: Nachdem, zu Buchbeginn, ein Einbrecher unter rätselhaften Begleitumständen die Sicherheitsanlagen von Hoffmanns privater Trutzburg überwindet, spult sich ein Albtraum aus Paranoia und Schizophrenie, Gewalt und - vermeintlichem - Identitätsdiebstahl ab. Er versetzt die Finanzmärkte in Aufruhr und gibt dem Glauben an den Menschen als Zauberlehrling neue Nahrung. Dass Harris diesen Glauben so weit treibt, den Menschen zum Opfer seiner stetig selbst lernenden, sich selbst optimierenden Software, zum Sklaven seines schlaflosen Superhirns zu machen, ist eine der beklemmendsten wie zweifelhaftesten Seiten des Buches. Der Rezensent sieht die Gefahr des Zauberlehrlingseffekts wohl. Allein ihm fehlt auch nach dem »Angst«-Konsum der Glaube an den Sieg der interessenlosen Maschine übers menschgesteuerte Profitinteresse. Prognosen über die Angst, die Investoren-Euphorie oder -Panik auslösen, in Algorithmen zu übertragen, ist auch heute kein erfolgsgarantiertes Unterfangen. Da überzeugt Harris nicht bis zuletzt.

Gleichwohl ist er ein unterhaltsamer, zwingender Erzähler in bester angelsächsischer Tradition. Auch dort, wo er Handlung in Gesprächen erzeugt, entstehen bei ihm keine Klippen der Langeweile, geschweige, dass er sie nicht zu umschiffen wüsste. Er bereitet komplexe Materie verständlich und packend, pointiert und streitbar auf. Und an literarisch vertretbarer Parteinahme fehlt es ebenso wenig. »Angst« ist ein Lockruf, was die Geschichte angeht, und ein Weckruf, was die Gefahren betrifft. Mit Harris wächst ein neuer John le Carré, ein neuer George Orwell heran. Das sind zwei Landsmänner, die Harris nicht nur bewundert, er bekennt sich ausdrücklich auch zu deren Einfluss auf seine heutige Aufklärungsarbeit.

Robert Harris: Angst. Aus dem Engl. von Wolfgang Müller. Heyne Verlag. 384 S., geb., 19,99 €.

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