Die Macht der Vorurteile
Trotz gegenteiliger Beweise gelten Mädchen immer noch als mathematisch weniger begabt als Jungen
Vor einigen Jahren wurde die Stanford University zum Schauplatz eines viel beachteten Experiments. Der Psychologe Claude Steele bildete aus mathematisch etwa gleich begabten Studentinnen und Studenten zwei gemischte Gruppen. Während er den Probanden der ersten Gruppe mitteilte, die zu lösenden Aufgaben seien »geschlechtsneutral«, erklärte er den Probanden der zweiten Gruppe, dass Frauen mit den Aufgaben gewöhnlich größere Probleme hätten als Männer. Daraufhin brachen in der zweiten Gruppe die Leistungen bei den Studentinnen so dramatisch ein, dass selbst Steele überrascht war: Diese erzielten weniger als halb so viele Punkte wie die Studentinnen der ersten Gruppe. Als man den zuvor erfolgreichen Studentinnen vor dem Test einen Werbespot zeigte, in denen Frauen eine Backmischung anpriesen und damit in einer typischen weiblichen Geschlechterrolle zu sehen waren, fiel bei einigen die Leistung ebenfalls ab, wenngleich nicht so stark wie im ersten Fall.
Naturgemäß ging Steele in seinem Experiment davon aus, dass zwischen den Geschlechtern signifikante biologische Unterschiede bestehen. Allein die Ergebnisse lassen erkennen, dass es in der Regel nicht-biologische Faktoren sind, die darüber entscheiden, ob Frauen in mathematischen Tests schlechter abschneiden als Männer. Welche aber sind das? Wie so oft in der Pädagogik erschöpft sich die Antwort nicht in einer monokausalen Erklärung. Mehrere Einflüsse kommen hier zum Tragen. An erster Stelle sei auf das gern kolportierte Klischee verwiesen, Frauen hätten an sich Defizite beim Erfassen abstrakter Zusammenhänge. Und wie zum Trost wird hinzugefügt, dass die weiblichen Stärken im sprachlichen Bereich lägen: »Mädchen lernen leichter lesen und schreiben.«
Obwohl, wie ich befürchte, viele Leute das Wort PISA nicht mehr hören können, in einem Punkt haben die verschiedenen Schulleistungsstudien ein klares Resultat erbracht: Am Ende der Grundschulzeit erzielen Jungen und Mädchen im Fach Mathematik nahezu die gleichen Ergebnisse. Danach allerdings gehen die Leistungskurven merklich auseinander. Im Alter von 15 Jahren, so haben mehrere PISA-Studien ergeben, schneiden Jungen bei der Lösung mathematischer Aufgaben gewöhnlich besser ab als Mädchen.
Die Folge davon ist, dass sich erheblich weniger Schülerinnen als Schüler für einen mathematisch-naturwissenschaftlichen Studiengang entscheiden. Und noch etwas gilt es in diesem Zusammenhang zu bedenken: Während Jungen ihre Fähigkeiten in den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) oft überschätzen, neigen Mädchen dazu, sie zu unterschätzen. »Mädchen haben durchschnittlich mehr Angst vor Mathe-Prüfungen und sind weniger zuversichtlich, dass sie Rechenaufgaben selbstständig lösen können. Außerdem glauben sie seltener daran, dass sie Mathematik im späteren Beruf brauchen«, sagt Maresa Sprietsma vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim. Die Gründe für so viel Pessimismus sind gewiss nicht biologischer Natur. Denn bei Mädchen, deren Eltern einen wissenschaftlichen Beruf ausüben und in deren Familien es keine negativen Stereotype über die mathematische Begabung von Frauen gibt, fallen laut einer ZEW-Studie die genannten Selbstzweifel deutlich geringer aus.
Es bleibt festzuhalten: Vorurteile und Rollenbilder können nach Art einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung die mathematische Leistungsfähigkeit von Mädchen nachhaltig schmälern. Das bekräftigt auch eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung von Psychologen der Villanova University in Philadelphia, die auf den Daten der PISA- und TIMSS-Studien des Jahres 2003 beruht (TIMSS = Trends in International Mathematics and Science Study). Daran nahmen fast 500 000 Schüler aus 69 Ländern teil. Ergebnis: Je ausgeprägter die Chancengleichheit der Geschlechter in einem Land ist, desto bessere Resultate erzielen Mädchen bei der Lösung mathematischer Aufgaben.
Natürlich hängt es auch entscheidend von der Qualität des Mathematikunterrichts ab, ob Jungen und Mädchen ihre Fähigkeiten in diesem Fach wirklich entfalten können. Hier bleibt in Deutschland noch einiges zu tun. So wird, um ein Beispiel zu geben, das Fach Mathematik an Berliner Grundschulen bis zu 80 Prozent fachfremd unterrichtet. »Vermutlich haben viele der dabei eingesetzten Lehrer früher selbst nicht gern Mathematik gemacht«, meint die Lehr- und Lernforscherin Elsbeth Stern und fügt etwas forsch hinzu: »Aber das Einmaleins können sie gerade noch, und deshalb machen sie das jetzt viel mit ihrer Klasse.« Um Mathematik hingegen optimal unterrichten zu können, hält Stern drei Dinge für unerlässlich. Erstens brauche der Lehrer ein fundiertes Fachwissen. Denn: »Man kann nur auf Gebieten unterrichten, in denen man deutlich mehr weiß und sich sicherer fühlt als die Schüler.« Zweitens müsse jeder Pädagoge berücksichtigen, dass Kinder »nicht fotokopieartig lernen, sondern sich ihr Wissen selbst konstruieren«. Drittens schließlich sollte ein Lehrer fähig sein, den Unterricht schrittweise komplexer zu gestalten. Stern: »Wenn man als Lehrer meint, große Zahlen würden eine Textaufgabe schwer machen und nicht die Struktur einer Textaufgabe, dann wird man nicht die optimalen Aufgaben stellen können.«
In Diskussionen über eine Qualifizierung des Mathematikunterrichts hört man gelegentlich auch folgende Frage: Erbringen Schülerinnen und Schüler nicht vielleicht bessere Leistungen, wenn sie von Lehrkräften des gleichen Geschlechts unterrichtet werden? Um hierauf eine Antwort zu finden, hat Maresa Sprietsma die erweiterten PISA-Daten für Deutschland ausgewertet - und herausgefunden: »Der Anteil der Mathematiklehrerinnen an allen Mathematiklehrkräften in der Sekundarschule hat keinen Einfluss auf die Leistungsunterschiede von Jungen und Mädchen im Fach Mathematik.«
Das Erlernen mathematischer Techniken ist zweifellos schwierig, und viele Eltern glauben, sie könnten ihre Kinder dabei nicht sonderlich unterstützen. Das stimmt nur bedingt. Denn die Grundlagen des mathematischen Denkens werden schon in der frühkindlichen Entwicklung gelegt. Es sei daher sinnvoll, bereits mit Drei- oder Vierjährigen das Zählen von alltäglichen Dingen zu üben, sagt Elsbeth Stern. Indem man Mädchen und Jungen hierbei gleichermaßen fordert, wirkt man zugleich dem Vorurteil entgegen, Frauen seien für Mathematik nicht geschaffen. Dass sie es in Wirklichkeit sind, beweist nicht zuletzt die steigende Zahl von Mathematikprofessorinnen.
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