Das »Jahr 101« soll die Wende bringen
Mit dem neuen Führer will Pjöngjang die Ernährung des Volkes und andere Probleme des Landes lösen
Am 15. April geht das alte Jahrhundert zu Ende, dann wird ein neues Zeitalter eingeleitet, eine »Glanzzeit des Aufblühens« wird beginnen. Die Koreanische Demokratische Volksrepublik (KDVR) lebt in einer anderen Kalenderwelt. Das wahre Menschheitszeitalter beginnt nach offizieller nordkoreanischer Lesart mit der Geburt des »ewigen« Präsidenten Kim Il Sung am 15. April 1912, und es trägt den Namen »Dschusche-Zeitalter«. Wir befinden uns demnach im 100. Jahr des Dschutsche-Zeitalters, das am Geburtstag Kim Il Sungs ausklingt. Der Beginn des Jahres 101 soll die Wende bringen. Es soll das Tor aufgestoßen werden zum neuen, strahlenden Dschutsche-Jahrhundert, zu einer großen aufblühenden Nation, wie es die nordkoreanische Propaganda nennt. Allerdings gibt es keine Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, die dies belegen könnten.
Den Medien der KDVR ist seit dem Tod Kim Il Sungs 1994 die Rolle der Verkünder einer Neujahrsbotschaft zugewiesen worden, nachdem Führersohn Kim Jong Il auf diese Tradition seines Vaters verzichtet hatte. Derzeit überschlagen sich Fernsehen und Zeitungen mit nebulösen Erfolgssprüchen, es gibt allerdings keine konkreten Wirtschaftsdaten, keine Angaben zu den sozialen Verhältnissen und darüber, wie das im Dunst überquellender Propaganda verschwimmende »Aufblühen« bewältigt werden soll. Die Lage ist »angespannt und kompliziert«, heißt es in der von den Medien vermittelten Botschaft an die Nation.
Das Ausmaß der »angespannten Lage« bleibt im Dunkeln. Nach Meinung südkoreanischer Wirtschaftswissenschaftler ist die industrielle Produktion unter der Herrschaft Kim Jong Ils um zwei Drittel geschrumpft, sind etwa sechs Millionen der 24 Millionen KDVR-Einwohner von Hunger bedroht bzw. leiden unter akuter Unterernährung. Seit über einem Jahrzehnt ist die KDVR auf Lebensmittelhilfen angewiesen, die vor allem aus Südkorea kommen, um das Überleben ihrer Bürger zu sichern.
»Die Flamme von Hamnam ist das Banner des Generalangriffs, das Fanal einer Wende für den großen Sieg im Jahr 2012« - damit umschreibt die Führung den Willen, den wirtschaftlichen Niedergang zu stoppen und aus dem Armenhaus Ostasiens wieder ein halbwegs stabiles Land zu entwickeln. Dass der Hunger als Geißel der Bevölkerung überwunden werden muss, hat die Führung erkannt, weiß aber nicht, wie dieses Problem zu lösen ist. In der offiziellen Mitteilung liest sich das so: »Das Problem der Ernährung des Volkes, das Nahrungsmittelproblem, zu lösen, ist die brennendste Frage beim Aufbau eines mächtigen Staates.«
Mehr ist darüber nicht zu erfahren. Den wöchentlichen Besuchen Kim Jong Ils in Betrieben und Armee-Einrichtungen, den so genannten Vor-Ort-Anleitungen, war zu entnehmen, dass vor allem Landwirtschaft und Leichtindustrie vorangebracht werden sollen. Etwa 45 Mal hatte sich der Staatschef laut den Medien seit Anfang Oktober auf den Weg gemacht und dabei Kaufhallen, Lebensmittelbetriebe, Fischzucht- und Schweinemastanlagen, Entenfarmen, Laienensembles und Armee-Einheiten inspiziert. Auch am 24. Dezember wurden Bilder eines solchen Auftritts gezeigt. Es ging darum, wie die Bevölkerung der Hauptstadt Pjöngjang mit frischem Fisch versorgt wird - gewissermaßen die letzte Anweisung des »geliebten Führers«, der am 17. Dezember verstorben war.
Das veröffentlichte Wirtschaftsprogramm ist ein einziger Forderungskatalog an das Volk nach noch härterer Arbeit, noch größeren Entbehrungen und noch vollkommenerer Hingabe an den neuen großen Führer. Zunächst gelte es, diesen Winter zu überstehen. Wie Vater und Großvater setzt Kim Jong Un auf das Mittel, durch Besuche - noch heißt es nicht Vor-Ort-Anleitung - in Garnisonen und Betrieben öffentliche Präsenz zu zeigen. Seine erste Visite im neuen Jahr führte den obersten Befehlshaber zur 105. Gardepanzerdivision, wo er persönlich die Raumtemperatur maß und im Sojabohnenspeicher eine abwechslungsreiche Ernährung für die Soldaten forderte.
Die Armee bleibt Säule des Staates und Wirtschaftsfaktor Nr.1. 1,5 Millionen Soldaten stehen unter Waffen, haben eigene Betriebsanlagen und landwirtschaftliche Einrichtungen, sieben Millionen Einwohner könnten im Ernstfall mobilisiert werden. Wer auf einen Wandel der Politik in Pjöngjang wartet, der wird sich gedulden müssen. Bis zum Frühjahr wird ein wahres Propagandainferno einsetzen mit gigantischen Inszenierungen und Huldigungen für den neuen Kim. Das Land wird sich hineinsteigern in einen Jubelrausch für die eigenen Traumbilder und dem Rest der Welt ein bizarres Schauspiel eigener Macht und Vollkommenheit bieten. Erst nach dem 15. April, wenn das neue Dschutsche-Jahr begonnen hat und die »Tür zu einer mächtigen Nation aufgestoßen« ist, könnten Konturen des neuen Führers sichtbar werden.
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