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Rufe aus dem Osten

Thomas Mann in der DDR: Georg Wenzel frischt seine Erinnerungen auf

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.
Solch Jubel bleibt in Erinnerung: Thomas Mann 1949 bei einer Rundfahrt durch Weimar
Solch Jubel bleibt in Erinnerung: Thomas Mann 1949 bei einer Rundfahrt durch Weimar

Seine Geduld war 1951 erschöpft. Wie oft hatte er seinen Verleger in Frankfurt am Main schon gebeten, den Druck seiner Bücher in Ostdeutschland zu erlauben? Gottfried Bermann Fischer, unerschütterlich, hatte sich nicht umstimmen lassen. Ende Dezember entschloss sich Thomas Mann im kalifornischen Pacific Palisades, »ernstlichste Worte« mit ihm zu reden. »Die Rufe nach Büchern von mir aus der deutschen Ostzone nehmen kein Ende«, schrieb er, und er käme ja diesen dringenden Wünschen von Herzen gern nach, sei bei Bermann Fischer aber immer auf Widerstand gestoßen, »den Sie damit begründeten, daß Ostzonen-Ausgaben eine zu große Gefahr für Ihre eigenen bedeuteten. Dahinter stehen gewiß auch politische Bedenken, aber ich weiß ja, daß andere westdeutsche Verlage … sehr wohl Lizenzverträge mit Ostdeutschland abschließen«.

Im Januar 1952 gab man im Hause S. Fischer endlich nach, stellte aber gleich so hohe finanzielle Forderungen, dass Thomas Mann noch einmal eingreifen musste. Dann der Eklat: Auf Druck Ulbrichts und mit Bechers Billigung wurden 30 000 Exemplare der »Buddenbrooks« in einer illegal hergestellten Ausgabe verbreitet. Thomas Mann protestierte, sprach von Willkür und »Freibeutertum«, aber er setzte (kulanter als Hesse, dem dasselbe passiert war) weiter auf den Aufbau-Verlag. Monate später erschienen, gedruckt auf bestem Papier, die »Buddenbrooks«, »Lotte in Weimar« und »Doktor Faustus«, danach in kurzem Abstand die anderen Romane und Erzählungen. 1955, zum 80. Geburtstag des Autors, kamen, von ihm und Hans Mayer konzipiert, die zwölf Bände der »Gesammelten Werke« heraus, in flaschengrünes Leinen, in Leder und in Halbpergament gebunden, so prächtig ausgestattet wie keine andere Edition. Walter Janka freilich, auf dem Weg nach Kilchberg, bekam es auf dem Züricher Flughafen mit einem Beamten zu tun, der ungläubig wissen wollte, ob man denn in der DDR Thomas Mann verlegen dürfe.

So verwundert wie damals in der Schweiz ist oft gefragt worden. Wenigstens von jenen, die meinten, außer Mangel, Unrecht und Stasi-Allmacht habe es im Osten nichts Nennenswertes gegeben. Georg Wenzel kennt die erstaunten Blicke, auch die Ignoranz, wenn im Gespräch das Thema mal wieder berührt wurde. Wenzel, über achtzig inzwischen, ist ein kleiner und stiller Mann von großer Bescheidenheit, Literaturliebhaber und angesehener Wissenschaftler. Er ist nach 1945 Neulehrer gewesen, hat studiert und dann an einer Potsdamer Oberschule Deutsch und Geschichte unterrichtet, war später Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften und schließlich Professor in Greifswald. Und weil er sich, aus leicht erkennbarem Grund, bloß wundern kann über so viel verbreitete Unkenntnis, hat er in der Granseer Edition Schwarzdruck ein Büchlein publiziert, das unter dem Titel »Gab es das überhaupt?« an die Stellung Thomas Manns in der Kultur der DDR erinnert.

Da schreibt jemand, der es als Glück empfindet, dabei gewesen zu sein. Er hat 1955 in Potsdam, vom Jubilar damals mit »dankbarstem Interesse« quittiert, den Thomas-Mann-Arbeitskreis gegründet und auch dessen Gedenkbuch herausgegeben, das gleich nach dem Tod des Schriftstellers erschien. Er edierte zwei Bände mit Untersuchungen zu den Romanen und Erzählungen, verfasst von Autoren in Ost und West (ein dritter fiel, so unbegreiflich es war, der Zensur zum Opfer), und er hat eine international hochgeschätzte Bibliographie der gedruckten Briefe Thomas Manns aus den Jahren 1889 bis 1955 vorgelegt.

Seine Rückschau beginnt, wo sie beginnen muss: mit Johannes R. Becher, der nicht weit von den Münchner Wohnungen des Schriftstellers zur Welt kam, sich seit den zwanziger Jahren immer wieder, auch polemisch und widersprüchlich, über dessen Arbeit geäußert hat, der Thomas Mann nach 1945 vehement verteidigte, als man ihm im Westen vorwarf, 1933 das Vaterland verraten zu haben, und der mit verzweifelter Entschlossenheit dafür kämpfte, dass die Leser im Osten von der Lektüre der Mann'schen Prosa nicht ausgeschlossen wurden. Der Aufbau-Verlag, den er im August 1945 mit Paul Wiegler gegründet hatte, wurde Thomas Manns Hausverlag in der DDR.

Die Werkausgabe von 1955, 1956 und 1965 noch einmal aufgelegt, hat damals Furore gemacht. Sie war, als sich die Gratulanten am 6. Juni am Zürichsee zur Geburtstagsfeier einfanden, das vielbesprochene Ereignis. Zwanzig Jahre später glänzte man bei Aufbau mit einer weiteren Edition, einer zehnbändigen Sammlung der Romane und Erzählungen, die mit einer Novität aufwartete: Es war die erste Ausgabe, die einen starken Anhang erhielt, Überblicke und Kommentare, denen das bei Kröner erschienene Thomas-Mann-Handbuch eine »hervorragende Qualität« bescheinigt. Eine Vorreiter-Rolle spielte der Aufbau-Verlag auch 1983, als er, ediert von Harry Matter, seine hochgelobte, kommentierte Essay-Ausgabe startete (die bis 1990 über drei Bände jedoch nicht hinauskam).

S. Fischer trabte hinterher. Die »Gesammelten Werke», auch sie in Leinen und Leder präsentiert, umfassender noch als die Aufbau-Ausgabe, erschienen 1960 und 1974 mit einem dicken Nachtragsband noch einmal. Vorn, im Band mit den »Buddenbrooks«, der Hinweis auf die Hilfe zweier Archive. Das eine in Zürich, wo Thomas Manns Nachlass betreut wird, das andere in Berlin, angesiedelt zunächst unterm Dach der DDR-Akademie der Wissenschaften. Beträchtliche Verwunderung überall. Aber es gab dieses Archiv tatsächlich. Seine Existenz verdankte es, wenn man will, Erich Neumann, einem peniblen Korrektor, der eines Tages begonnen hatte, die unendlich vielen Druckfehler in den Romanen, Erzählungen und Essays aufzuspüren. 1948 schickte er Thomas Mann eine erste Liste. Der, froh über das unerwartete Angebot, ermunterte ihn, weiterzumachen, man beschloss, eine Arbeitsstelle einzurichten, aus der, so hochtrabend wie kühn, das Archiv wurde, gegründet mit dem (freilich unerreichbaren) Ziel, gemeinsam mit Wissenschaftlern aus dem Westen eine historisch-kritische Ausgabe vorzubereiten.

Wenzel, zwischen 1966 und 1971 Leiter dieser Einrichtung, hat sich für seine ausgedehnte Exkursion noch einmal in die Archive gestürzt und macht aus seinen Erinnerungen und Funden ein starkes, mit Fakten und Details üppig gefüttertes Buch. Hier wird selbstbewusst, so nüchtern wie nachprüfbar berichtet, wie viel Beispielhaftes in all den Jahren gelang (was Kenner und Fachleute im Westen auch nie bestritten). Die Rede ist von Leidenschaft, Träumen, Plänen, großartigen Editionsleistungen (an denen auch andere DDR-Verlage beteiligt waren), Schriftstellern und ihrer Beschäftigung mit Thomas Mann, von Ausstellungen, Konferenzen, Gremien, Ideen, deutsch-deutschen Querelen. Und zum Schluss gibt es noch ein Kapitel über die Beziehungen Arnold Zweigs zu Thomas Mann. Ein respektables, heute dem herrschenden Zeitgeist geopfertes Stück Kultur- und Wissenschaftsgeschichte der DDR kommt dabei zum Vorschein, umfassend dokumentiert in diesem betont sachlichen, nie auftrumpfenden Bericht.

Zuletzt wurde im Aufbau-Verlag an eine weitere Thomas-Mann-Ausgabe gedacht. 44 Bände sollten es werden, gegliedert in sechs Werkkomplexe. Mit der DDR landete der ehrgeizige Plan im Orkus der Geschichte.

Georg Wenzel: Gab es das überhaupt? Thomas Mann in der Kultur der DDR. Edition Schwarzdruck, 178 S., brosch., 20 €.

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