Gutes Geschäft mit schlechter Arznei
Bericht schürt Zweifel an der Wirksamkeit des Grippemedikaments Tamiflu
Kürzlich präsentierte das internationale Forschungsteam um den in Rom ansässigen Tom Jefferson neueste Erkenntnisse über Tamiflu. Sie könnten für den Schweizer Patenthalter des Medikaments milliardenschwere Folgen haben. Nach der Auswertung bisher unveröffentlichter Unterlagen des Basler Pharmaunternehmens Roche kommen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass es keine schlüssigen Belege dafür gebe, dass Tamiflu den Verlauf einer schweren Grippe abmildern könne. Darüber hinaus weise das Medikament mehr Nebenwirkungen auf als von Roche zugegeben.
Nach seiner Markteinführung in der EU im Jahre 2002 entwickelte sich Tamiflu besonders aufgrund der Grippepanik in den Jahren 2006 und 2009 schnell zu einem der finanziell erfolgreichsten Medikamente für Roche. Nationale Gesundheitsbehörden auf der ganzen Welt, darunter in Deutschland, investierten auf Empfehlung der Weltgesundheitsbehörde WHO Milliarden, um im Falle einer Epidemie über ausreichende Tamiflubestände zu verfügen. Allein 2009 bescherte das Medikament dem Konzern einen Umsatz von 3,4 Milliarden Dollar.
Auch die Cochrane-Gruppe kommt 2006 zunächst zu dem Schluss, dass Tamiflu eine wirksame Waffe im Kampf gegen die Grippe ist. Die Forscher stützten ihre Schlussfolgerung seinerzeit auf die Metaanalyse von zehn klinischen Studien. Demnach vermindere das Medikament die Dauer einer Influenzagrippe um einen Tag. Die Krankheit verlaufe harmloser und gefährliche Komplikationen wie eine Lungenentzündung werden vermieden.
Doch bald darauf kommen erste Zweifel auf. Ein japanischer Kinderarzt alarmiert die Cochrane-Gruppe darüber, dass die Daten, auf die sich die Forscher gestützt hatten, von Wissenschaftlern zusammengestellt worden waren, die von Roche dafür bezahlt wurden. Nur zwei der zehn Studien seien in Fachzeitschriften publiziert worden und daher einer medizinisch-redaktionellen Überprüfung unterzogen worden. Nur die acht unveröffentlichten bescheinigten Tamiflu, dass es besser wirke als ein Placebo. 2009 entscheiden sich die Cochrane-Experten, ihre Untersuchung nur unter Heranziehung der zwei veröffentlichten Studien zu wiederholen. Der Beweis, dass Tamiflu schwere Komplikationen im Verlauf einer Influenzagrippe verhindere, kann daraufhin nicht mehr erbracht werden.
Tom Jefferson und sein Team fordern von Roche die Rohdaten der Versuchsreihen an - alle Protokolle über den Krankheitsverlauf der Versuchspersonen und nicht nur die in Berichten verfassten Schlüsse der Wissenschaftler. Nach Verzögerungen liefert der Pharmakonzern schließlich 3195 Seiten an Material. Doch die Daten entpuppen sich als unvollständig. Obwohl die Versuchsreihen normalerweise vier bis fünf Module umfassen, operiert Roche nur mit den Daten des ersten Moduls
Das Cochrane-Team versucht, die fehlenden Module selbst zu finden und wird schließlich bei der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA fündig. Hier erlangen die Forscher Zugang zum zweiten Modul der Testreihen, das Roche der EMA im Genehmigungsverfahren vorgelegt hatte. Obwohl die Daten der anderen Module weiterhin fehlen, können die Forscher nun auf 30 000 Seiten von Testberichten zurückgreifen. Genug, um Widersprüche zu finden und mehr Zweifel aufkommen zu lassen. Zum Beispiel belegen die detaillierten Beschreibungen der Versuchsreihen Nebenwirkungen, die schließlich in der Auswertung verschwiegen wurden.
Unter dem Strich wird klar: Roche bleibt den Nachweis, dass Tamiflu eine Influenzagrippe abschwächt, weiter schuldig. Die zuvor verschwiegenen Nebenwirkungen könnten den Pharmakonzern teuer zu stehen kommen. Im November 2011 ergänzte Roche plötzlich die Liste der Tamiflu-Nebenwirkungen um 14 Symptome, darunter Muskelschmerzen, Fieber, Herpes, Nebenhöhlenentzündung und Ohrbeschwerden.
Rechtsexperten erwarten Klagen gegen Roche. Einer der ersten Prozesse könnte dabei der Fall der Britin Samantha Millard sein, die nach eigenen Angaben nach der Einnahme von Tamiflu erblindete.
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