Mit Kanonen auf Spatzen geschossen

Eine neuzeitliche Inquisition - 3,5 Millionen Menschen wurden vom Verfassungsschutz »überprüft«

  • Hans Canjé
  • Lesedauer: 3 Min.
Nicht nur bei unseren französischen Nachbarn stieß auf absolutes Unverständnis, was die Konferenz westdeutscher Ministerpräsidenten unter Vorsitz des SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt am 28. Januar 1972 beschloss. In Ermangelung einer adäquaten Vokabel fand das deutsche Wort »Berufsverbot« Eingang in die französische Sprache.

Im Amtsdeutsch wurde der Beschluss unter der sperrigen Überschrift »Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst« auf Radikalenerlass oder Extremistenbeschluss reduziert. Er bestimmte, dass in das Beamtenverhältnis nur berufen werden darf, »wer die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt«. Weiter hieß es: »Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des Anstellungsvertrages.«

Brandts Fehler

Brandt, der »mehr Demokratie« hatte wagen wollen und nun erkennen musste, wie sich Gesinnungsschnüffelei, Duckmäuser- und Denunziantentum ohnegleichen ausbreiteten, sprach später von »einem »Fehler«. Dieser Einsicht folgte indes nicht die Bereitschaft, die Betroffenen zu rehabilitieren und zu entschädigen. Sein Parteifreund Helmut Schmidt stellte fest, man habe »mit Kanonen auf Spatzen geschossen«.

Als 1985 die Regierung des Saarlandes unter Oskar Lafontaine als erstes Bundesland diese Inquisition abschaffte, stellte sich heraus, in welchem Umfang da mit Kanonen auf Spatzen geschossen worden war: Etwa 3,5 Millionen Bewerber für Ämter im öffentlichen Dienst waren durch die »Regelanfrage« beim Verfassungsschutz auf ihre politische Zuverlässigkeit überprüft worden. Rund 35 000 Dossiers waren angelegt worden über Lehrer, Postbeamte, Briefträger, Zollmitarbeiter Lokomotivführer und Friedhofsgärtner. Es gab 11 000 Berufsverbotsverfahren, 2200 Disziplinarverfahren und 265 Entlassungen. Betroffen waren vor allem Kommunisten, weshalb der französische Jurist Pierre Juquin von einem »ärmlich maskiertes Kommunistengesetz« sprach.

Der Fall Ilse Jakob steht exemplarisch für den damals an die Verfassungsschützer ergangenen (und wieder aktuell anmutenden) Kampfauftrag. Bereits am 26. Januar 1972 hatte die SPD-geführte Hamburger Schulbehörde ein Dossier vom Landesamt für Verfassungsschutz über die Studienrätin erhalten. Dessen Befund lautete: »Gegen die Berufung der Obengenannten in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit werden Bedenken erhoben.«

Sammelwut

Die damals 30-jährige »Verfassungsfeindin« war dem Dossier zufolge bereits über zehn Jahre hinweg Objekt der Sammelwut des Dienstes. Da wurde z.B. vermerkt, dass Ilse Jakob, Tochter eines 1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet Vaters und einer in das KZ Ravensbrück verschleppten Mutter, 1961 an einem Kongress der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) teilnahm. Für 1963 wird die Wahl in einem Studentenausschuss als belastend angeführt, 1969 die Unterschrift gegen einen NPD-Aufmarsch, 1971 die DKP-Mitgliedschaft. Kein Jahr ohne »Erkenntnisse«, sie mündeten in dem Verdikt: »Es bestehen daher erhebliche Zweifel dagegen, dass sie die Gewähr dafür bietet, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Sinne des Grundgesetzes einzutreten.«

40 Jahre nach der Verkündung des »Radikalenerlasses« war am 23. Januar 2012 im Leserforum von Zeit-online zu lesen: »Auf der einen Seite würde ich gerne in den Justizdienst treten. Auf der anderen Seite würde ich gerne der Linken beitreten. Allerdings kann ich dann meine Bewerbung in den Wind schreiben ... Diese unterschwellige Diskriminierung der Linken ist in Süddeutschland fast schon extrem.«

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