Am heutigen Sonnabend wird Schauspieler Jürgen Holtz 70 Jahre alt
Ist doch alles Kawatsch, oder?
Mag sein, dass Jürgen Holtz mehr und mehr in Rollen hineinwuchs, die ein Dilemma kennzeichnen: Er ist ein Schauspieler der verlorenen Hoffnungen. Arbeit hält ihn zwar auf der Bühne, etwas Typisierendes scheint ihn inzwischen festzulegen - aber sein Leben scheint nach wie vor in Anlässen von Arbeit zu stecken, die es nicht mehr gibt.

1983 verließ er die DDR, arbeitete von 1985 an für zehn Jahre, mit Unterbrechungen, in Frankfurt (Main). Wieder mit Schleef (»Mütter«, »Vor Sonnenaufgang«, »Die Schauspieler«), in Müller-Stücken, bei Wolfgang Engel. Zu seinen großartigen Arbeiten der letzten Jahre gehört das Ein-Personen-Stück »Katarakt« von Rainald Goetz, von Hans Hollmann in Frankfurt (Main) inszeniert, später auch am Deutschen Theater Berlin gezeigt. Eine geradezu brutale Rede- und Schweigerolle. Wie ein Geisterschiff landet da ein Alter auf der Bühne. Die Schlüsselworte fallen früh: »Biografie: grässlich.« Und. »Alles Quatsch.« Nein, der Berliner Holtz, Sohn eines Drogisten, sagt natürlich: »Alles Kawatsch.« Und er schlurft sich eine Choreografie des Verdämmerns zusammen. Schaurige Ausschweifungen eines lebenden Leichnams. Die Sprache und das Ich: Geschichte einer dauernden Entzweiung, und Jürgen Holtz in einer Rolle, die ihn wohl selber sehr erschütterte. Es stellte sich im Verlauf des bösen Abends, an den Abgründen einer gebrochenen Menscheninnenwelt, fast gute Laune ein. Die Bosheit freundlich, der Pessimismus kreuzfidel, der Ausbruch zart und die Sanftheit explosiv. Was rauschhaft, verquer anmutete, durchknetete Holtz mit pathologischer Nüchternheit.
Von gleich bohrender Tonlage, von mürrischer Schwere und biegsam-verschlagener Sehnsucht nach Daseinswärme: der »Weltverbesserer« von Thomas Bernhard (Holtz spielte mit Eleonore Zetzsche), ebenfalls in Frankfurt inszeniert, von Engel, später ebenfalls im DT.
Die Soli. So »endet« einer, den man in bösen Urteilen über den Zustand seiner großen Liebe Theater vermuten darf. Überall Verlotterung - im Sprachlichen, im Geistigen, im Ethischen. Geschäftige Gleichgültigkeit. Holtz, einst Lehrer an der Berliner Schauspielschule, ein Mann mit Sprachsinn und Grübellust - er spielt in Inszenierungen, aber mitunter meint man zu spüren, er sei inmitten aller, inmitten des schnurrenden Stadttheater-Betriebs, doch allein. Was ab und zu in konsequenten Ausstiegen endet. Freilich: Bleibt er, wird einiges grandios. So sein zaubernder Puck in Goschs DT-»Sommernachtstraum«; Oberons Diener in Turnhose, ein Kalfaktor von schwabbeliger Müdigkeit. Oder seine sozialistische Funktionärs-Schranzigkeit in Franz Wittenbrinks »Zigarren« am BE.
Als Motzki, 1993 in Wolfgang Menges gleichnamiger Fernsehserie, wurde Jürgen Holtz in Anlehnung ans Ekel Alfred des unvergesslichen Heinz Schubert zum Prototyp des übellaunigen Ostmenschen-Beschimpfers. Mit dieser Satire auf pusseligen Kleingarten-Sozialismus, plakativen Multikulti-Foklorismus und soziale Milieumiefigkeit rief der Schauspieler Heerscharen von Witzlosen, Beleidigten und Ehrgekränkten auf den Plan. Menges Publikumsbeschimpfungen wurden plötzlich Anlass zu ebenso komischen Abwehrreaktionen von Leuten, die sich plusternd in die ostdeutsche Anwaltspose warfen. Deutsche Grobheit und das deutsche Talent, beleidigt zu sein - eine entsetzliche, eine entsetzlich lustige Mischung.
Dabei funktionierte dieser bärbeißige Hausschuh-Philosoph Motzki, eingekreist von türkischen Obsthändlern, doch genau nach jenem Muster, mit dem die Hasserfiguren des Thomas Bernhard ihre bösen Tiraden in die Welt schleudern: Hinter den Übertreibungen an Unempfindlichkeit lauert ein Zuneigungsgefühl - und zwar auf die Chance, sich zu offenbaren. Aber just dort, wo diese Chance geahnt werden darf, steigert die Angst vor der Verletzbarkeit nur wieder den Poltergeist der Verunglimpfungsfreude. Der Angst hat vorm Pathos einer verwundeten Natur.
Er war Shylock, der Gloster im «Lear«, er spielte Kleist, gab den Saladin im »Nathan«, den Angelo in «Maß für Maß« - dieser Einzelgänger ist der versteckte, ganz von Stolz und Anspruch und Berliner Schnoddrigkeit umbettete Feinsinn; nur auf den ersten Blick zuvörderst im Gröberen daheim. Holtz erobert nicht automatisch Publikum, er setzt auf Kräfte der Distanz, die aus einem denkenden Körper heraus wirken. Ja, mit grinsender Liebe auch zu intensiver Schmierenkomödianterei, angesiedelt in den Urständen menschlicher Darstellungsträume - es lebe der Kawatsch!
Ich sähe ihn, den Mann mitten im Spätwerk, gern in Besetzungen, mit denen mutige Regisseure bewusst gegen festgekerbte Erwartungen arbeiten. So gibt es also noch genügend Zukunft.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.