Brecht fürs Bellevue

»Not tut die Stimme für jene ohne Stimme«

  • Lesedauer: 5 Min.
Der Pfarrer, Bürgerrechtler und Essayist Friedrich Schorlemmer über das Amt des Bundespräsidenten, die demokratische Mitmachkultur und was Staatsoberhaupt und Arbeiterführer verbindet.
Brecht fürs Bellevue

nd: Friedrich Schorlemmer, wir leben in einer gefestigten Demokratie. Der Bürger ist, prinzipiell gesprochen, mündig. Wozu also noch einen Bundespräsidenten, einen, wie die »FAZ« so trefflich meint, »Spezialisten fürs Allgemeine«?
Schorlemmer: Wir benötigen in so verwirrten Zeiten, in denen kaum jemand durchsieht, einen besonders positionierten Bürger, der Problemstellungen öffentlich macht, sie bündelt, sie mit dem Bedürfnis der Gemeinsinnstiftung ins gesellschaftliche Gespräche bringt.

Also sind Sie nicht dafür, dies Amt abzuschaffen?
Einer, der sich unabhängig von Parteien zu denken und zu reden erlaubt - das nutzt der gesellschaftlichen Klimabildung.

Auch, indem er Streit auslöst.
Ja. Was aber nicht heißt, dass er unberechenbar sein darf.

Gehört Parteienschelte zum Amt?
Nein. Es gilt eher, den Parteien aufzuhelfen durch kritische und konstruktive Einlassungen. Es geht um eine Institution, die nicht sehr reich, aber doch gut ausgestattet ist. Mit Würde, die aus der Rede kommt! Eine Institution, in der jemand präsidiert, der dafür begabt ist, die Dinge auf den Punkt zu bringen, der mitzureißen versteht, der weltkundig ist.

Was soll er denn noch alles leisten können?!
Vor allem ein Mensch soll er sein, den Menschen zugewandt.

Welchen Menschen?
Allen. Aber: Er sollte auch denen Stimme sein, die in der Gesellschaft keine Stimme besitzen, die keine Lobby, aber große Probleme haben.

Man merkt: Friedrich Schorlemmer, der Seelsorger. Und er stellt fürs Amt ein Ideal auf!
Jemand, der keine Majestät ist, aber auch kein Populist; eine Persönlichkeit mit Strahlkraft, Redlichkeit und Sachkompetenz - das ist doch wirklich nicht zu viel verlangt. Einer, der über den Dingen steht, ohne abgehoben zu sein. Und weil Sie vorhin vom mündigen Bürger sprachen - den behindert doch so eine Institution nicht, eher befördert sie die Mündigkeit. Wenn denn das Amt dialogisch angelegt wird.

Dialogisch angelegt, das heißt: Streitbarkeit. Also: Gauck.
Ein Präsident muss konfliktbewusste Beziehungspflege betreiben können. Ja, dafür ist der jetzige Kandidat stark. Er ist meinungsstark, er kann eigensinnig, pointiert, verständlich und begeisternd reden. Das sollte man bei allen kritischen Einwänden gegen Gauck nicht gering schätzen. Ob er inhaltlich sein Amt ausfüllt, werden wir noch sehen. Und sakrosankt ist er nirgendwann.

Bisher redete er nur immer für sich, demnächst muss er für alle reden.
Er muss wohl aufpassen, dass er den zensierenden Prediger nicht überstrapaziert. Für mich heißt das auch: Er muss den Unterschied zwischen gängiger politischer Abgrenzung, die zum Geschäft gehört, und prinzipieller Ausgrenzung von Menschen bewahren.

Er soll anstoßen!
Aber das muss auch aus dem Zuhören kommen. Auch für den Bundespräsidenten gilt, was Bertolt Brecht in einem Gedicht als Forderung an Arbeiterführer gesagt hat: »Du, der Du ein Führer bist, wollest hören beim Reden.«

Sie sprachen davon, Problemstellungen seien zu bündeln. Welche Themen brennen denn?
Vor welchen Alternativen stehen wir im Blick auf Europa, auf den Frieden, auf das Klima, die Energie? Wie ist unser Verhältnis zu autoritären und diktatorischen Systemen? Da muss es, mit dem Bundespräsidenten, jemanden geben, der das in einer inneren Unabhängigkeit, aber mit Kompetenz in die Debatte drängt.

Was erzählt es über Deutschland: dieser gegenwärtige nervöse, ja fast schon hysterische Streit um den Kandidaten Gauck?
Der vorhergehende Präsident ist wie ausgelöscht, der kommende wird als Erlöser gefeiert. Das ist beides falsch. Mit der Folge, dass die jetzige Debatte das Amt und dessen Bedeutung überhöht. Und: Die nervöse Diskussion erzählt von unserer Unfähigkeit zur Balance. Stets wird Frontenbildung betrieben, bis allen Beteiligten schier die Mundwinkel schäumen. Man darf Gauck jetzt nicht jahrelang frühere Äußerungen vorhalten. Und er wiederum muss frühere Äußerungen im neuen Lichte seiner neuen Funktion überdenken. Also: Die gegenwärtige hochgedrehte Debatte - das ist Frühlingsfieber statt landläufiger Frühjahrsmüdigkeit.

Woran liegt es, dass moralische Instanzen so in Misskredit gerieten?
Sie haben es nur dann schwer, wenn sie von links kommen.

Am leichtesten haben es jene, die mit ihrem Geist nicht weh tun.
Ja. Der Papst war da und hat nichts gesagt, und alle fanden das ganz großartig. Wer Anstöße geben will, muss es riskieren, anstößig zu sein - wenn sein eigenes Wissen und sein Gewissen ihn dazu treiben. Darüber muss geredet werden. Zum Beispiel: Dass der Verfassungsschutz zehn Jahre lang, den Rechtsexremismus verfolgend, in die falsche Richtung gesucht hat und das auch noch vergeblich - das ist ein krisenhaftes Ereignis. Das bleibt ein tief in unser politisches Innere schneidendes Thema.

Sie wenden sich gegen prinzipielle Parteienschelte ...
Ja. Ich halte reflexhafte Parteienschelte in einer parlamentarischen Demokratie für grundfalsch. Die Demokratie lebt nicht von denen, die sich in die Meckerecke zurückziehen, die resignieren. Wir brauchen keine Mitläuferkultur, aber wir benötigen unbedingt eine lebendige Mitmachkultur.

Ich erwähnte es noch mal, weil Gaucks Grundansatz des individuellen bürgerlichen Engagements in die gleiche Richtung zielt.
Ich finde diesen Ansatz gut. Dieses: Leute, engagiert euch! Nur, wie gesagt: Es gibt Menschen in dieser sich verhärtenden Gesellschaft, denen man tausendmal sagen kann, sie mögen sich engagieren: Sie können es nicht, sie wurden hinausgestoßen, sie haben keine Kraft, keine Perspektive. Für sie aber muss sich die Stimme des Präsidenten besonders stark machen! Er muss die politische Verantwortung anmahnen, diesen Menschen zu helfen.

Muss der Präsident Volkes Stimme sein?
Er muss hinhören, was im Volk los ist. Aber er braucht auch den Mut, dem Volk zu sagen, was an dessen Urteil über bestimmte Probleme in der Welt und in Europa und im eigenen Lande zu überdenken ist. Wir brauchen als Präsidenten keinen Übervater, keinen Kaiser-Ersatz und keinen unbefragbaren Heiligen Stuhl. Wohl aber einen Bürgerpräsidenten, in dem sich die große Mehrheit überparteilich repräsentiert sieht - und dessen Gedanken sie neugierig, sich selbst fordernd, aufgreift.

Interview: Hans-Dieter Schütt

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