Einlassen auf Vielfalt
Der gemeinsame Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern stellt das deutsche Schulsystem in Frage
nd: Die UNESCO mahnt die Bundesrepublik zur Umsetzung inklusiver Bildung. Was aber ist unter solch einer Bildung überhaupt zu verstehen?
Inklusive Bildung ist ein Begriff der UN-Behindertenrechtskonvention und bezieht sich erstens auf die Forderung, Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf beziehungsweise mit Behinderungen das Recht auf Bildung in allgemeinen Schulen zu sichern. Zweitens darauf, dass sich das gesamte Bildungssystem auf die Vielfalt der Lernvoraussetzung der Kinder und Jugendlichen einlässt. Insofern ist das ein sehr breiter Begriff, der auch andere Lernerschwernisse mit einschließt, nicht nur die Behinderung im engeren Sinne.
Wird dies nicht durch Integrationsklassen bereits abgedeckt?
Der bisherige Begriff der Integration schloss ein, dass ein Kind, bei dem Diagnostiker, meist Sonderpädagogen und Schulpsychologen, »sonderpädagogischen Förderbedarf« - so die amtliche Bezeichnung - feststellten, zusätzlich personelle und sächliche Ressourcen erhält. Diese Schüler werden in die Integrationsklasse der allgemeinen Schule mitgenommen. Insofern will die bisherige Integrationspädagogik dasselbe wie die Inklusion: das gemeinsame Lernen der Kinder. An dieser Stelle gibt es keinen Unterschied. Der Unterschied besteht darin, künftig das gesamte Bildungssystem so einzurichten, dass allgemeine Schulen eine Grundausstattung sonderpädagogischer Kompetenz erhalten und im weitesten Sinn barrierefrei werden.
Können Sie das konkretisieren?
Zur Zeit wird in den Bundesländern diskutiert, für Kinder mit Lern-, Verhaltens- und Sprachproblemen die Grundausstattung der Schulen nicht am individuellen Kind, sondern an der gesamten Schülerzahl der Schule festzumachen. Je nach Bundesland haben etwa drei bis fünf Prozent aller Schüler diesen Förderbedarf. Bei Kindern mit geistiger, körperlicher oder Sinnesbehinderung kennen wir schon im Vorschulbereich den entsprechenden Bedarf. Diesen nimmt das Kind individuell in die allgemeine Schule mit. Wir hätten dann einmal eine Grundausstattung für den Bereich Lernen, Verhalten und Sprache und zusätzlich individuelle Förderressourcen für die übrigen Förderschwerpunkte.
Was bedeutet Inklusion für die Lehrerbildung?
Auf der Ebene der Theorie müssen die Traditionslinien Sonderpädagogik und allgemeine Pädagogik Wurzeln einer gemeinsamen Pädagogik werden, die auf Individualität und Förderung starken Wert legt. Daher schlage ich vor, das Thema gemeinsamer Unterricht, Lernen unter Bedingungen von Heterogenität für alle Lehrämter in das Studium aufzunehmen. Auf der Praxisebene wird es wichtig, dass Sonderpädagogen neben ihrer Kompetenz für bestimmte Förderansätze alle Kinder im Blick haben und Fachlehrer sich für individuelle Lernvoraussetzungen sensibilisieren. Entsprechend muss die Fortbildung der Lehrkräfte ausgebaut werden.
Berührt die Inklusion das Zweisäulenmodell von Gymnasium und Sekundarschule?
Ja - wenn einerseits Kinder mit Lernproblemen durch inklusive Förderung in die allgemeine Schule kommen und andere Kinder gleichzeitig sitzen bleiben oder abgeschoben werden können, haben wir einen unauflösbaren Widerspruch. An alle Schulformen der Sekundarstufe ist der Anspruch zu stellen, sich der Inklusion zu öffnen. Was das für das Gymnasium oder für die Sekundarschule/Gesamtschule bedeutet, muss jeweils vor Ort geklärt werden. Erfreulicherweise öffnen sich auch manche Gymnasien dem Gedanken der Inklusion.
Welche Einstiegsszenarien können Sie sich vorstellen?
Die Bundesländer müssen mindestens für den Bereich Schule, aber auch für den Vorschul- und Berufsschulbereich ein konkretes Aktionsprogramm mit einem klaren Zeitplan auflegen, aus dem hervorgeht, dass das Recht der Kinder auf Inklusion im Schulgesetz verankert, dass die personelle und sächliche Ausstattung wie auch die Perspektive der bisherigen Förderschulen und Sonderschulen geklärt wird. Dieser Aktionsplan muss dann auf regionaler Ebene konkretisiert werden: Geburten- und Schülerzahlentwicklung, Gebäudestrukturen, Wünsche der Eltern und so weiter.
Inklusion kann nicht zum Nulltarif, nicht kostenneutral umgesetzt werden.
Unterricht behinderter Kinder gibt es auch heute nicht zum Nulltarif. Wir haben hohe Kosten für das pädagogische Personal oder für die Beförderung zu weit entfernten Förderschulen. Mein Vorschlag ist, die vorhandenen personellen wie sächlichen Mittel in das allgemeine System zu transferieren. Das ist kostenneutral. Hinzu kommen Kosten für die Lehrerfortbildung und für zusätzliche Lehrerstunden. Die entstehen, wenn ein Kind mit Behinderung in die allgemeine Schule wechselt und neben seinen sonderpädagogischen Stundenanteilen auch allgemeiner Schüler wird. Man muss also genau gucken, wer hat höhere, wer geringere Kosten. Die Schulträger haben weniger Kosten, wenn sie eine Förderschule nicht mehr brauchen und für kürzere Schulfahrten aufkommen müssen.
… und Umbauten?
Umbaukosten sind eine einmalige Angelegenheit. Ruheräume, Beratungsräume oder Räume für Freizeit brauchen wir generell bei der Umwandlung zu Ganztagsschulen. Die Entwicklung moderner Pädagogik ist eben eng mit der Gebäudefrage verbunden. In Berlin zum Beispiel könnte man zuerst in jedem Bezirk mindestens drei barrierefreie, relativ wohnortnahe Grundschulen einrichten. Im Sekundarbereich sollte es pro Bezirk mindestens ein Gymnasium und eine Sekundarschule geben, die barrierefrei sind. Oder es gibt je nach Art der Behinderung Schulen mit einem baulichen und personellen Schwerpunkt, sogenannte Schwerpunktschulen. Das Ganze ist ein Prozess.
Von der Mahnung, die Bundesrepublik möge Inklusion zügiger umzusetzen, bis zur inklusiven Praxis ist es ein weiter Weg. Was ist hilfreich, was muss sich ändern?
Europaweit gibt es ein gut ausgebautes Netzwerk zur Inklusion, die European Agency. Auf der Bundesebene muss das Kooperationsverbot, das die Unterstützung des Bundes untersagt, aufgehoben werden. Dann könnte der Bund, wie damals beim Ganztagsschulprogramm, auch in Inklusion investieren, zum Beispiel in baulicher Hinsicht. Derzeit wird die Debatte von den Ländern, großen Stiftungen und auf der fachlichen Ebene von den Lehrer- und Sozialverbänden geführt. Eine breite Diskussion, die oft mit Ängsten vor Überforderung, vor zu hohen Kosten oder vor Leistungsabfall verknüpft ist. Diese Bedenken muss man offen diskutieren. Denn es gibt viele Erfahrungen, die zeigen, dass Ängste auch unbegründet sind. Wo es Probleme gibt, muss man mit ihnen fair umgehen und Lösungen finden. Ich bin ganz optimistisch, dass diese Entwicklung deutlich vorangeht.
Das heutige Förderschulsystem ist ein System der Ausgrenzung, das durch Integrationsklassen an Regelschulen löchrig wurde. Neben Schulen für körperliche, geistige und Sinnesbehinderung existieren Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernbehinderung, emotionale und soziale Entwicklung, Sprache. Mit der Ratifizierung der Konvention über die Recht von Behinderten im Jahr 2008 hat sich Deutschland allerdings verpflichtet, Sonderschulen für Behinderte aufzulösen.
Inklusion in Europa
Von annähernd 30 europäischen Staaten haben 20 eine Quote von 80 Prozent und mehr inklusiven Unterricht. Deutschland liegt in diesem Ranking an vorletzter Stelle. Allerdings werden in den meisten Staaten lernschwache Schüler nicht als behindert sondern als lernschwache Schüler eingestuft und gehen in die allgemeine Schule. Damit fallen sie aus der Statistik heraus. Anders in Deutschland: Bei der Quote von 6,2 Prozent Kindern mit sonderpädagogischen Förderbedarf sind Kinder mit Lern-, Verhaltens- und Sprachproblemen mit inbegriffen. Die Quote der Kinder mit geistiger, körperlicher und Sinnesbehinderung liegt bei uns wie in anderen Ländern nur bei 2 Prozent.
Weitere Informationen:
www.unesco.de und www.european-agency.org
Im Internet: www.nd-aktuell.de/inklusion
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