Klug ist man nicht, klug wird man
Warum ein IQ-Test die intellektuellen Fähigkeiten des Einzelnen nur beschränkt erfasst
Nach wie vor ist die Frage nach der Erblichkeit der Intelligenz von populistischen Vorurteilen überlagert. Das jüngste Beispiel lieferte Thilo Sarrazin, dessen Ausführungen dazu nicht nur sachlich misslungen sind, wie Wissenschaftler sagen. Sie sind oft auch menschenverachtend. Bezeichnend hierfür ist ein Vergleich, den Sarrazin vor wenigen Wochen bei einem Vortrag im sächsischen Döbeln »zum Besten« gab. Werde in ein Gestüt von Lipizzanerpferden per Zufall in jeder Generation ein belgischer Ackergaul eingekreuzt, dozierte der ehemalige SPD-Politiker, dann schmälere dies bei den Tieren die genetisch bedingte Fähigkeit zum Laufen und steigere ihre genetisch bedingte Fähigkeit, einen Karren durch den Lehm zu ziehen: »Und genauso ist es auch beim Menschen.« Obwohl Sarrazin verschweigt, dass die »edlen Lipizzaner« einst aus spanischen, italienischen und arabischen Pferden geformt wurden, besteht mit Blick auf sein Buch »Deutschland schafft sich ab« kein Zweifel, was er eigentlich sagen wollte: Durch die Einwanderung von Muslimen, denen er überwiegend eine »eher ärmliche Intelligenz« attestiert, wird die intellektuelle Leistungsfähigkeit Deutschlands nachhaltig beeinträchtigt.
In der Regel sind solcherart Pauschalierungen wenig erhellend. Noch dazu, wenn man wie Sarrazin zu ihrer Begründung Studien heranzieht, die selbst in der Fachwelt auf Skepsis stoßen. Dennoch erklärte er in einem Interview frei heraus, es sei wissenschaftlich erwiesen, »dass Intelligenz zu 50 bis 80 Prozent vererbbar ist«. Sonach würde ein Mensch im Extremfall lediglich 20 Prozent seiner Intelligenz den Einflüssen der Umwelt verdanken. Tatsächlich behauptet Sarrazin, »dass in den Fällen, wo man den Einfluss der gemessenen Intelligenz und des sozioökonomischen Hintergrunds auf den Schulerfolg untersucht, der Einfluss der gemessenen Intelligenz weitaus überwiegt«.
Offenkundig geht Sarrazin davon aus, dass sich der Phänotyp »Intelligenz« als Summe von genetischen Anlagen und Umwelteinflüssen darstellen lässt. Das ist jedoch ein Irrtum, auf den der kanadische Psychologe Donald O. Hebb schon vor 40 Jahren hingewiesen hat: »Beide Faktoren sind von 100-prozentiger Wichtigkeit. Ihre Beziehung zueinander ist nicht additiv, sondern multiplikativ. Die Frage nach dem Beitrag des Erbguts zur Intelligenz ist so unsinnig wie die Frage nach dem Beitrag der Breite oder Länge zur Fläche eines Feldes.«
Nicht minder verfehlt wäre es, beim Hören einer Klaviersonate von Beethoven herausfinden zu wollen, zu wie viel Prozent deren Qualität vom Können des Pianisten bzw. von der Güte des Instruments abhängt. Beides ist voneinander nicht zu trennen. Ähnlich liegen die Dinge bei der Intelligenz, für die es zweifellos eine genetische Grundlage gibt, wie man nicht zuletzt an eineiigen Zwillingen sieht, die nach der Geburt in verschiedenen Familien aufgewachsen sind. Letztlich entscheidet aber die konkrete Umwelt, welche genetischen Möglichkeiten überhaupt zur Entfaltung kommen. Zu dieser Umwelt gehören neben den bekannten »großen« Faktoren (soziale Schicht, Erziehung, Schule etc.) auch individuell zufällige Ereignisse: ein Freund, ein Buch, ein Theaterbesuch. Wie der berühmte Schmetterling in der Chaostheorie können solche Ereignisse Menschen anstoßen, sich in eine bestimmte Richtung zu entwickeln, in welche sie sich ansonsten nicht entwickelt hätten.
Auf einen anderen Aspekt der jüngsten Erbe-Umwelt-Diskussion macht die Zürcher Psychologin Elsbeth Stern aufmerksam: »Die absolute Intelligenz eines Menschen lässt sich gar nicht messen. Für eine seriöse Erblichkeitsschätzung kann man nur die relativen Unterschiede innerhalb einer Gruppe vergleichen.« Betrachten wir als Beispiel die Aussage, für die Intelligenz oder genauer den Intelligenzquotienten (IQ) hätten Wissenschaftler eine Erblichkeit von 50 Prozent ermittelt. Das heißt im Klartext: Die in einer Population gemessenen IQ-Unterschiede gehen zu 50 Prozent auf genetische und zu 50 Prozent auf nicht-genetische Faktoren zurück. »Man muss deshalb nicht von der Vererbung von Intelligenz, sondern von der Erblichkeit von Intelligenzunterschieden sprechen«, so Stern.
Veranlasst durch Sarrazin fragt auch der Wissenschaftsjournalist Dieter E. Zimmer in einem unlängst erschienenen Buch schon im Titel: »Ist Intelligenz erblich?« (Rowohlt, 320 Seiten, 19,95 €). Seine Antwort lautet - ganz in der Diktion Sterns: Ja. Überhaupt hält Zimmer wenig davon, beim Thema Intelligenz zu viel Scheu vor biologischen Erkenntnissen zu haben. Denn »dass Menschen in vielerlei Hinsicht von Geburt an verschieden begabt sind«, dürfte niemand ernstlich bestreiten. Gäbe es diese Unterschiede nicht, wäre die Welt um vieles langweiliger, könnte man hinzufügen. Zum Problem wird das Ganze erst, wenn man die Begabungen unterschiedlich wertet und sie zur Grundlage einer sozialen Hierarchie macht, die sich dann mit Intelligenz allein kaum noch aufbrechen lässt.
Obwohl Zimmer den Chancen von Bildung mitunter zu sehr misstraut, ist sein Buch als kritische Replik auf Sarrazin unbedingt lesenswert. Zeigt es doch, dass man die im Titel formulierte Frage beantworten kann, ohne die Wissenschaft zum Instrument einer auf Diffamierung und Ausgrenzung gerichteten Ideologie zu machen.
Gleichwohl besteht kein Anlass, den IQ-Mythos neu zu beleben. Denn nicht alle geistigen Kompetenzen hinterlassen ihre Spuren im Intelligenzquotienten, der hauptsächlich die sprachlichen, räumlichen und mathematisch-logischen Fähigkeiten erfasst. Und diese werden im Test traditionell in einer mehr oder weniger normierten Form abgefragt. Das verlangt nicht zwangsläufig Kreativität, deren Potenzial gerade darin liegt, von allgemein anerkannten Lösungswegen abzuweichen. Und so kommt es, dass kreative Menschen nicht immer einen hohen IQ besitzen, und Menschen mit hohem IQ oft nicht kreativ sind.
Wie schwierig es ist, den IQ zu einer Art Grundmaß für Intelligenz zu machen, zeigt auch ein Effekt, den der neuseeländische Politologe James R. Flynn 1984 entdeckte. Danach sind in vielen Industrieländern die gemessenen IQ-Werte seit Jahrzehnten regelmäßig in die Höhe gegangen. Folglich musste die IQ-Skala immer wieder neu geeicht werden, so dass unseren Urgroßeltern nach diesen Maßstäben ein Intelligenzquotient zuzuweisen wäre, der im 19. Jahrhundert kaum ausgereicht hätte, um eine normale Schule zu besuchen. Eine absurde Vorstellung, gewiss. Doch wie kann man den Flynn-Effekt erklären? Die wohl überzeugendste Antwort lautet: Durch den permanenten Umgang mit visuellen Reizen (Fernsehen, Comics, Computer etc.) werden Kinder früh schon auf das für IQ-Messungen typische Entschlüsseln von Bildaufgaben trainiert. Solche »kognitiven Neuerwerbungen« mögen in der heutigen Gesellschaft nützlich sein, ob sie allerdings einen Zugewinn an Intelligenz bedeuten, darf bezweifelt werden.
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