- Kultur
- Buchbeilage
Schlafen bis in die Puppen
BERLINER AUSGRABUNGEN
Nüscht is dem Berliner wohl lieber als bis in die Puppen zu schlafen, da lässt er sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Ein alltäglich gesagtes Redewendungspotpourri, aber woher kommt es? Sein Ursprung liegt genau in dem kleinen slawischen Dorf, das sich in 775 Jahren zur Weltmetropole mauserte. So waren es die geschäftigen Berliner Marktweiber, die sich in harten Verhandlungen nicht die teure Butter abschwatzen ließen. Und die antiken griechischen Skulpturen, die einen Spaziergänger nach langer, kräftezehrender Wanderung durch den Tiergarten an der Siegessäule empfangen, nannte der Berliner in seiner typischen Nonchalance einfach »Puppen«.
Diese und andere erhellende Stadtanekdoten hat die Politikwissenschaftlerin Claudia von Gélieu gesammelt und die Alltagsgeschichte hinter den Kulissen von Brandenburger Tor und Kurfürstendamm erforscht. In kurzweiligen Episoden erzählt sie von Slawen, Hugenotten und Juden, die allesamt die Stadt und ihre Sprache prägten. Übrig gebliebene Schmuckstücke wie »Fisimatenten« oder »malochen« sind heute noch Zeugen. Und fast nebenbei gibt das Buch auch eine Antwort auf die Frage, warum alle Kulturen der Welt in eine schwangere Auster passen.
Den Geschichten, die eigentlich für kleine Großstädter geschrieben sind und von Anna Zunterstein liebevoll illustriert wurden, ist der wissenschaftliche Erkundungsdrang anzumerken. Mystische Legendenbildung wird mit historischen Fakten hinterfragt und die Erzählungen leben von dieser Gleichzeitigkeit.
Die kritische Zeitreise beginnt im Mittelalter mit der Blasiertheit der Stadtgründer, die aus purem Stolz eine Sage um Albrecht den Bären erfanden, um davon abzulenken, dass eigentlich Slawen der Stadt ihren Namen gaben. Zu solch erfrischenden Perspektivwechseln gehört auch, dass in vielen Geschichten Frauen im Mittelpunkt stehen. So war es die emsige Wäscherin »Mutter Lustig« aus Köpenick, die dem Bezirk mit der ersten Lohnwäscherei einen völlig neuen Industriezweig bescherte. Selbst die historischen grünen Wasserpumpen am Bordsteinrand sind für Gélieu eine Hommage an die hart arbeitenden Frauen Berlins.
Die Autorin recherchiert seit fast dreißig Jahren zur weiblichen Stadtgeschichte und wurde dafür vom Senat ausgezeichnet. Nun hat sie ein Buch geschrieben, das nicht einfach eine schnöde Geschichtsstunde ist. Sie lädt ein zu einer lebhaft geschriebenen Stadtrundfahrt, die auch gestandenen Ur-Berlinern noch Unentdecktes offenbart.
Claudia von Gélieu: Wie den Berlinern ein Bär aufgebunden wurde. Geschichten aus Berlin. Ill. v. Anna Zunterstein. Verlag für Berlin- Brandenburg. 117 S., geb., 17,50 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.