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Das Zerrbild im Spiegel
ISLAMDEBATTEN
Mit seinem Buch »Aufbruch in die Vernunft« ist Stefan Weidner ein wohltuender Beitrag zur Debatte, jenseits tagesaktueller Aufgeregtheit und Kurzsichtigkeit, gelungen. Seine Essays und Reportagen richten sich an ein Lesepublikum, das sich für die revolutionären Zustände in der arabischen Welt ernsthaft und unvoreingenommen interessiert und die Frage nach dem Umgang mit dem (scheinbar?) »anderen« im eigenen Land mit der nach dem eigenen Ich, der eigenen Identität verknüpft.
Weidner bemerkt zum Schluss seines hoch spannenden Buches: »Ich gehe also davon aus, dass Aufklärung, Vernunft, Moderne unvollendet sind - bei uns nicht unbedingt weniger als in der islamischen Welt.« Diese Offenheit für mögliche Ausgänge gesellschaftlichen Wandels hier wie dort bescheinigt dem politischen Subjekt, den Akteuren auf den Straßen von Damaskus, Sanaa, Kairo, Bahrain und Teheran, ehrenhafte persönliche Motive, die oft lebensgefährliches Engagement leiten. Weidners Buch gräbt dem sich hierzulande allwissend gebärdenden, doch allzu oberflächlichen Expertentum das Wasser ab. Ulrich Kienzle gehört zu den wenigen in Deutschland, die ihre Überraschtheit angesichts der neuen Unüberschaubarkeit in der arabischen Welt ehrlich zugeben.
Was das Land betrifft, das Luthers Ausspruch »Du sollst nit mit eines andern Mannes Arsch durchs Feuer reiten« zu verstehen glaubt, so ist Weidner sehr skeptisch. Geradezu blendend ist seine Analyse der von Sarrazin angestoßenen Anti-Islam-Debatte, die eine weit verbreitete Strömung in Deutschland widerspiegelt, die den gläubigen Muslim als Angelpunkt eigener Identitätskrise herausgreift. Anders Breiviks Massenmord in Norwegen, die zehn Opfer einer neonazistischen Mörderbande in Deutschland richteten sich weniger an die Opfer als vielmehr an die jeweilige »Mehrheitsgesellschaft«.
Der von der Debatte Getriebene bekommt rote Ohren, wenn er daran erinnert wird, wie gering doch die Zahl der Konvertiten gegenüber den Apostaten unter den Muslimen in Deutschland ins Gewicht fällt. Ja, auch bei den Muslimen in diesem Land spielt die praktizierte Religion, von Generation zu Generation, in der großen Breite eine immer geringere Rolle.
Was die Angst vor dem radikalen Islam in der arabischen Welt angeht, so erinnert Weidner an die nahezu bedingungslose Unterstützung der Öl-Emire in Saudi-Arabien und anderswo, deren Tausende Prinzen mit wohlgefüllten Privatschatullen seit vielen Jahren den Salafismus - eine fundamentalistische Spielart des Islam - international betreiben und befördern.
Weidner stellt sich auch die Frage, ob »Islamkonferenzen« ihre Funktion erfüllen, wenn sie überwiegend mit Ideologen besetzt sind. Das Oberkapitel »Mosaiksteine zu einem anderen Islambild« deckt Qualitäten und intellektuelle Errungenschaften der islamischen Kultur auf, die sich aus Sicht des Autors als Anknüpfungspunkte jenseits des aktuellen politischen Islams, der in der arabischen Welt lediglich eine Elitenbewegung ist, eignen könnten. Hier geht dem Islamwissenschaftler das Herz auf.
Nicht allein Weidners kluge Analyse des Korans und dessen Rezeptionsgeschichte sind lesenswert. Der Autor hegt den Verdacht, dass das rigide Erscheinungsbild des Islam heute nichts anderes als das Ergebnis seiner Systematisierung unter dem Einfluss der europäischen Moderne ab dem 19. Jahrhundert ist. Und so fragt Weidner, Islamwissenschaftler und Chefredakteur der vom Goethe-Institut herausgegebenen Zeitschrift »Fikrun wa Fan/Art and Thought«, nach der »Noblesse des anderen« (Mircea Eliade). Wenn Aufklärung, Vernunft, Moderne unvollendet sind, sollten sie vollendet werden.
Weidners vorzügliche Reportagen und Essays aus Teheran, Kabul und andernorts lassen hier und da Risse in der scheinbar geschlossenen Lebenswelt von Muslimen aufscheinen.
War die Verlängerung der »Frauentage« auf einer Buchmesse in Riad von zweien auf fünf Tage eine Sensation? Ja.
Stefan Weidner: Aufbruch in die Vernunft. Islamdebatten und islamische Welt zwischen 9/11 und den arabischen Revolutionen. J.H.W. Dietz. 256 S., br., 18,90 €.
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