Der Verwandelte

CHAIM NOLL: »Kolja«, Erzählungen aus Israel

  • Walter Kaufmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Diese nahezu vierzig Erzählungen aus Israel verdeutlichen, wie sehr Chaim Noll ein Sohn des Landes geworden ist, ein Einheimischer, nicht vergleichbar mit dem Vater Dieter Noll, der die »Abenteuer des Werner Holt« über eine in Hitlers Krieg verheizte deutsche Jugend schrieb.

Der Band »Kolja« versammelt unterschiedlichste Erzählungen, manche nur wenige Seiten lang, dabei pointiert und gehaltvoll zwischen den Zeilen. Andere sind breiter, oft novellenartig um eine unerhörte Begebenheit kreisend - wie »Der Abtrünnige« über den jungen Chagai, fünftes von neun Kinder ultrareligiöser Eltern. Auf einer Busfahrt trifft Chagai der abschätzende, irgendwie mitleidvolle Blick eines israelischen Soldaten. Meisterlich wird gestaltet, was dieser Blick in ihm auslöst - seine Abkehr von Elternhaus und den Eintritt in die Armee, was gegen die Regeln seiner Religionsgemeinschaft verstößt, deren junge Männer sämtlich den Armeedienst verweigern. Man versteht, was Chagai umtreibt und welche Überlegungen ihn fortan von seiner Familie fernhalten, selbst seine Urlaubstage verbringt er im Lager, bis schließlich ... Nein, der Ausgang dieser Erzählung sollte nicht vorweggenommen werden.

»Der Abtrünnige« findet sich gegen Ende des Buches - bis dahin werden die Schicksale einer Vielfalt von Menschen gezeigt, sie alle geprägt durch ihre Herkunft, sehr verschieden in ihren Eigenarten und Bräuchen, vereint nur in der Wahl der Heimat.

Die nur selten mit dem Blick von außen, meist von innen her gestalteten Erzählungen lassen Chaim Nolls Zugehörigkeit erkennen, ein sich zum Judentum bekennender Schriftsteller, der in die Fremde ein geschliffenes, sehr klares Deutsch hinübergerettet hat. In die Fremde?

Es sind sehr authentische israelische Erzählungen, die Chaim Noll vorstellt. Nur eine unter den vielen lässt einen Hauch seiner ostdeutschen Vergangenheit spüren: »Talkshow« handelt von einem Mann namens Steinbeiss, einem in DDR-Zeiten als oppositionell eingestuften, dabei viel gelesenen Schriftsteller (wen hatte Noll im Sinn?), der zur Inhaftierung eines jungen Juden geschwiegen hatte, dem staatsfeindliche Äußerungen angelastet worden waren. Nach der Wiedervereinigung wird Steinbeiss, fürchtend, dass sein Schweigen von einst aufgedeckt werden könnte, einer Talkshow ausweichen. Dies alles wird auf einer Zugreise von Tel Aviv in den Süden von einem westlichen Korrespondenten einem Mitreisenden erzählt und ist mit keiner Erzählung der Sammlung vergleichbar.

Die anderen Texte gelten dem israelischen Alltag in den großen Städten, den Siedlungen auf dem Lande, den Kibbuzim im Negev und geben Aufschluss von der Verwandlung des Hans Noll in einen Chaim Noll, dem die Gestaltung eines Mosaiks der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft gelingen konnte.

Chaim Noll: Kolja. Erzählungen aus Israel. Verbrecher Verlag. 288 S., geb., 24 €.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.