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Als es noch Optimismus gab
JENNIFER EGAN: »Der größere Teil der Welt«
Chronik nennt sich (seit Januar 2012) ein neues Feature bei Facebook. Das System sortiert - mit deiner Hilfe - dein Leben, das dann automatisch online gestellt wird, damit auch deine Freunde sehen können, wie es im sozialen Netzwerk und zuvor verlief. Du entscheidest, was auf deiner Zeitleiste auftaucht und welche Einträge du unsichtbar halten oder löschen willst.
Facebook-Ästhetik ist auch der Stil, in dem Jennifer Egan ihren jüngsten Roman schrieb. Für »A Visit from the Goon Squad« erhielt die mit ihrer Familie in Brooklyn lebende Autorin 2011 den Pulitzer Preis. Ihr sympathischer Blick auf die durch die Zeit ziehende Generation der 1960er liegt nun unter dem Titel »Der größere Teil der Welt«, schön übersetzt von Heide Zeltmann, auch auf Deutsch vor.
Facebook-Ästhetik im besten Sinn. Denn das Leben ist weder linear noch logisch. Egan montiert Episoden aus der amerikanischen Gegenwart und der kalifornischen Vergangenheit der fiktiven Punkband Flaming Dildos und ihrer Szene, die sich als mehr oder weniger etablierte, saturierte Mittvierziger im »größeren Teil der Welt« niedergelassen hat. Wobei die Feen und Dämonen ihrer Jugend dafür sorgen, dass Sasha, Lou, Jocelyn, Bennie, Alex, Bix, Drew und andere Protagonisten, deren Lebensgeschichten in diesem Buch miteinander verflochten sind, immer mit einem Bein im anderen - kleineren? - Teil der Welt stehen bleiben werden. Geerdet in einer Lebensphase, in der es noch Optimismus gab. Egan erzählt in einem dynamischen Mix aus Rückblenden und schnellem Vorlauf.
Doch wenn Lou - dessen jugendliche Geliebte Jocelyn 25 Jahre zuvor war - mit seiner aktuellen Freundin Mindy und zwei seiner zahlreichen Kinder (Ralph und Charlie) auf Safari geht, oder Benny Salazar Goldflocken in seinen Kaffee streut, weil dieses Wundermittel ewige Potenz verspricht, und Rhea in Seattle versucht, Familie und das große Glück unter einen Hut zu bekommen, wird klar, dass irgendwann im Leben das Motto der Jugend nicht mehr greift. Damals lebten sie auf der Überholspur, und »wenn ihnen das Ergebnis nicht gefiel, konnten sie zurückgehen und noch einmal von vorn anfangen.« Heute ist Jocelyn 43, hat endlich den Absprung vom Heroin geschafft und studiert. »Ich habe mich verirrt«, sagt sie und versucht, die Reise der Vergangenheit doch irgendwie in der Gegenwart enden zu lassen.
Ihr Leben ging wie das der anderen irgendwo unterwegs verlorenen Freunde weiter. So wie das Leben der USA nach 9/11 weiterging. Und in ein großes Finale mündet: Scotty Hausmann, der ebenfalls im Jetzt gestrandete Ex-Gitarrist der »Dildos«, heute Hausmeister in New York City, gibt noch einmal ein Konzert. Ein letztes Mal will er die Slide-Gitarre auspacken, rocken wie einst. Doch sein aktuelles Repertoire sind Kinderlieder, vorgetragen in einem Park am Ground Zero in New York, vor einem riesigen Publikum, das sich bereitwillig manipulieren ließ, den Abend dort zu verbringen. Ein kleiner, subtiler Verweis auf die Tatsache, dass vermutlich am Ende jede, jeder käuflich ist.
Punk is dead? Vielleicht nicht wirklich. Vivienne Westwood (Jahrgang 1941) macht immer noch außergewöhnliche Mode. Und Jennifer Egan will alles andere als Resignation verbreiten. Jede Geschichte dieses Episodenromans liest sich spannend und berührend nah. Das von ihr gewählte TV-Soap-Format bietet literarisch beste Unterhaltung. Und Hoffnung. Denn vielleicht hat Bix ja Recht, wenn er zu Drew sagt: »Die Tage, in denen man sich aus den Augen verloren hat, sind so gut wie vorbei. Alle, die wir verloren haben, werden wir wiederfinden. Oder sie finden uns.« Selbst im größeren Teil der Welt. Gefällt mir!
Jennifer Egan: Der größere Teil der Welt. Roman. A. d. Engl. v. Heide Zeltmann. Schöffling & Co. 392 S., geb., 22,95 €.
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