Aus tiefen Rissen verblutet das Land

MARION BRASCH: »Ab jetzt ist Ruhe - Roman einer fabelhaften Familie«

  • Michael Sollorz
  • Lesedauer: 4 Min.

Man fragt sich, wie es zu diesem Buch kam. Hat sich die Autorin von einer Seelennot befreit? Ist ihr ein Literaturagent auf die Bude gerückt, deine verkrachte Sippe, schreib das auf? Familiengeschichten verkaufen sich prima, und die der Braschs enthält wahrhaftig alle Hoffnungen und Tränen des vergangenen Jahrhunderts.

Blutjung begegnen sich die Eltern in London, den Nazis entkommene Juden. Nach dem Krieg gehen sie nach Ostberlin. Der Vater, zum Kommunismus konvertierter Katholik, will beim Aufbau des besseren Deutschlands mittun, wird Funktionär. Bei Marions Geburt, 1961, sind da schon drei große Brüder. Die behütete Kindheit des Mädchens kennt noch keine Widersprüche, höchstens bei Oma: Die ist gegen das Neue, die Enkelin darf »Sesamstraße« gucken und mit in die Kirche.

Das Drama entfaltet sich um 68. Der älteste Bruder protestiert gegen den Einmarsch in Prag und landet im Knast - angezeigt vom Vater. Von da an wächst nichts mehr zusammen. Um diese Risse geht es, und der rebellische Spross ist der heimliche Star der Erinnerungen, die ohne ihn wohl kaum gedruckt existierten: Thomas Brasch, hochbegabter Dichter, nach Unterzeichnung des Biermann-Appells 1976 in den Westen ausgereist und dort öfter öffentlich aufmüpfig, sobald als Dissident gefeiert. Die kleine Schwester schreibt über sein erstes Buch: »Es handelte von ihm und von seinem Land. Er liebte das Land, doch es machte ihm diese Liebe und das Leben schwer.«

Auch die Brüder Zwo und Drei machen Kunst, als Schauspieler und Autor, und fallen durch ihre Trunksucht auf. Mutter stirbt an Krebs. Die Tochter hat keine Tränen. Was ist das für ein Fluch, fragt man sich beklommen, der sich an dieser deutschen, an dieser jüdischen Familie zu erfüllen scheint? Doch so einer Fallhöhe verweigert sich die Autorin, nimmt uns stattdessen seitenlang mit nach Ungarn, Westbücher klauen und Bruder Thomas treffen. Ins Hotel kommt auch »der Dichter mit der weiten Stirn«. Wir fühlen uns eingeweiht - Heiner Müller! Namen werden niemals genannt. Ein Schlüsselroman? Schön wär's. Stattdessen reichlich über die Strapazen des Trampens. »Unsere Stimmung war gereizt, doch wir sprachen nur das Nötigste - schließlich war das hier der Beginn eines großen Abenteuers, und jede Demonstration schlechter Laune wäre ein Armutszeugnis gewesen.«

In diesem Stil geht es durch einen langen, brütenden Sommer. »Wir fuhren mit der S-Bahn aus der Stadt, badeten in schimmernden Seen, lasen in unseren gestohlenen Büchern, und abends gingen wir tanzen oder saßen in verrauchten Kneipen, redeten dummes Zeug ... Alles war leicht.« - Glückliche Kinder in friedlichen Zeiten? Redlich, es so hinzustellen. Schließlich wehte nicht jedes lange Haar im Widerstand. »Ich hatte ja noch nicht mal den Mut, meinen Brüdern zu erzählen, dass ich in der Partei war. Ich hatte es ihnen verschwiegen aus Angst, sie würden mich als die kleine opportunistische Mitläuferin verurteilen, die ich ja auch war.«

Ob dieser Redlichkeit folgt man Marion Brasch und hofft lange, dass sie ihr Buch noch irgendwie hinkriegt. Doch spätestens beim knisternden Gipfeltreffen von Vater & West-Sohn schlafft man endgültig ab. Die Gesichter der beiden Männer sind sich ähnlicher geworden. Thomas, der enttäuschte Liebende, und sein alter Vater, bedrängt, an ideologische Götzen geklammert. Streit, der sich unversöhnlich zuspitzt. Eine große Schlüsselszene in diesem schicksalhaften Jahrhundert-Stück; so sehr wünschte man ihm eine Autorin von Format!

Schließlich das Finale. Aus den tiefen Rissen, wie sie auch die Braschs trennen, verblutet das Land. Die dagebliebenen Brüder tötet der Suff, den Alten auch wieder ein Krebs. »Ich habe meinen Vater verloren«, trauert Thomas, »und mein Land verliere ich jetzt schon zum zweiten Mal.« Schließlich stirbt auch er, gerade 56 Jahre alt.

Das brave Mädchen hat sie alle überlebt. Und am Ende wünscht man sich plötzlich, sie hätten ihn noch lesen können, diesen kindlichen Bericht, inmitten der traurigen, dummen Fronten, die Mutter, der Vater und die großen Brüder! Sie wäre die richtigen gewesen. Jetzt kommt der Bericht zu spät.

Marion Brasch: Ab jetzt ist Ruhe - Roman einer fabelhaften Familie. S. Fischer. 400 S., geb., 19,99 €.

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