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Es könnte alles schön sein ...

»Generation Kunduz« von Martin Gerner

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Mirwais ist 10 Jahre alt und Schuhputzer in Kunduz. Die Szenerie erinnert mich an de Sicas »Fahrraddiebe«. Auf den kleinen Sohn ist alle Last gelegt, die der Vater nicht tragen kann. Und auch Hoffnung? Sein Gesicht ist ernst, da spricht bereits ein Erwachsener über seine Sorgen und Ängste. Eine verlorene Kindheit in diesem Krieg in Afghanistan, immer zwischen den Fronten von ausländischem Militär und Taliban. Bomben explodieren im Stadtzentrum von Kunduz, sie zerreißen immer Unschuldige. Solche wie Mirwais, der mit seinem Schuhputzkasten über den Markt geht auf der Suche nach einem, der noch Geld hat, sich von ihm die Schuhe putzen zu lassen.

»Der Krieg der Anderen«, so lautet der Untertitel dieses in mehrfacher Hinsicht besonderen Dokumentarfilms von Martin Gerner. Wie leben junge Menschen mit der ständigen Bedrohung, der sie von gleich mehreren Seiten ausgesetzt sind? Es ist ein Blick auf den Alltag, der über das Äußerliche hinausgeht. Die Nähe, das Vertraute, ist dann auch das Erschütternde an diesem Porträt des heutigen Afghanistan. Was träumt man in Kunduz?

Nazanin (18) ist Reporterin bei einem von ihr selbst mitgegründeten Radiosender. Sie spricht davon, dass sie in einem Land leben will, in dem sie als Frau gleichberechtigt ist. Wie sie da vor der Kamera sitzt, scheint sie nichts von anderen jungen Frauen überall auf der Welt zu unterscheiden. Sie ist auf unbefangene Weise schön, elegant gekleidet und dezent geschminkt, ihr dunkles Haar trägt sie offen. Wenn sie spricht, dann unterstreichen feine Handbewegungen ihre Sätze. Da ist jenes aufklärerische Ideal lebendig, das in den Städten Afghanistans schon einmal selbstverständlich war, bevor die USA die religiös-fanatischen Taliban aus den Bergen aufzurüsten begannen - dieselben, gegen die sie heute ihren Krieg im Namen der Freiheit führen.

Wenn Nazanin auf die Straße geht, dann muss sie sich eine Burka überstreifen, in der sie wie ein Gespenst aussieht. Sie lacht und stöhnt zugleich darüber - aber es ist immer noch gefährlich, die Taliban herauszufordern. Ihr Bruder hat sie schon gewarnt wegen ihres Auftretens im Radio. Wenn die Taliban zurückkehren, muss die ganze Familie um ihr Leben fürchten. Alltag und Angst. Die meisten Afghanen fühlen sich als Spielball fremder Interessen. Wie kann man die eigenen Geschicke wieder in die eigenen Hände nehmen?

Hasib (24) hat sehr konkrete Vorstellungen darüber, wie die neue afghanische Zivilgesellschaft aussehen soll. Vor allem müssen die anstehenden Wahlen genutzt werden, Mitbestimmung zu erreichen. Aber wie schwer das ist, sehen wir, wenn die Kamera ihn und andere Wahlbeobachter auf dem Land begleitet. Die Taliban drohen jeden zu töten, der zur Wahl geht. Trotzdem drängen sich die Menschen vor den Wahllokalen - aber viele schaffen es gar nicht, hineinzugelangen und ihre Stimme abzugeben. Das sind zugleich hoffnungsvolle und ernüchternde Bilder. Es gibt einen Willen zum Aufbruch - aber es gibt auch eine blindwütige Gewalt, die bereits fast alle Strukturen im Land zerstörte.

Martin Gerner hat in Kunduz mit den Menschen gelebt, die er nun begleitet. Er ist seit zehn Jahren Korrespondent in diesem Land, spricht die verbreitetste Landessprache Dari - die Menschen hier vertrauen ihm. Im Interview beklagt er die Einseitigkeit unseres Afghanistan-Bildes. Es gibt eben nicht nur deutsche Soldaten in Kunduz und die Taliban in den Bergen, es gibt vor allem eine Stadt, in der Menschen versuchen, normal zu leben, mitten im Ausnahmezustand. Die Bombardierung zweier entführter Tanklaster bei Kunduz auf deutschen Befehl (mit über 90 Toten) hat Kunduz 2009 in die Welt-Nachrichten gebracht. Jedoch, so Gerner: »Wir müssen wieder lernen, den Bildern mit einem gesunden Misstrauen zu begegnen. Die Bundeswehr ist in Wahrheit ein kleiner Teil dessen, was das Leben in Kunduz ausmacht.«

Es gibt etwas, das nicht zu unserem Bild vom Hindukusch passt - und eben darin, das Unpassende zu zeigen, besteht die Kraft dieses im besten Sinne Leben dokumentierenden Films. Es ist der erste unabhängige überhaupt über Kunduz - man sollte ihn sehen. Da fasziniert die Vitalität, mit der die jungen Afghanen sehr offen über ihr Leben sprechen. Es könnte beinahe schön sein, das Leben hier in all seinen zurückgestauten Erwartungen. Wäre da nicht die Macht der korrupten Clans und die allgegenwärtige Gewalt. Wir sehen ein Interview auf einer belebten Einkaufsstraße, und plötzlich hören wir in der Nähe Granateinschläge. Immer wieder wird ziellos von außen in die Stadt hineingeschossen. Es soll eben keine Normalität herrschen, mit der Angst macht man hier Politik. Die deutschen Soldaten können das nicht verhindern, sie sind kaum ein Schutz, so sagen die Menschen in Kunduz. Die Bevölkerung erlebt das Militär meist nur, wenn gepanzerte Fahrzeuge durch die Stadt rasen und Passanten beiseite springen, um nicht überfahren zu werden. Oder wenn die Flugzeuge zu ihren Bombardements in den Bergen starten.

Kurz vor Drehbeginn löste sich eine Jugend-Theatergruppe in Kunduz auf. Den Mädchen war von ihren Eltern verboten worden aufzutreten - nicht, weil diese das Theater ablehnten, sondern weil es gefährlich ist, im heutigen Afghanistan aufzufallen. Und doch haben die Jugendlichen weitergemacht. Einer von ihnen dreht mit bescheidenen Mitteln einen Liebesfilm, deutlicher kann man derzeit in diesem Land Freiheit nicht einfordern.

Mitten in der immer wieder zerstörten Stadt leben Menschen mit Hoffnung. Das schwere Leben hat sie nicht stumpf gemacht, sondern aufmerksam. Was sie über ihre Situation sagen, ist oft klüger als vieles, was man von Experten bei uns hört. Fanatiker sind, das wird dabei klar, immer und überall nur eine kleine, aber gefährliche Minderheit. Wer jedoch von außen nach Afghanistan hineinregiert, stärkt gerade diese Kräfte, die man doch vorgibt zu bekämpfen. Die meisten Menschen hier wollen eine Gesellschaft, die auf anderen Werten als dem Hass beruht. Warum wissen wir darüber so wenig? Gerner: »Es ist, als hätten wir Angst vor etwas, vor dem Urteil der anderen Seite.« Die Bilder, die sein Film uns zeigt, besitzen die Schönheit jenes alltäglichen Chaos, in dem vieles möglich scheint.

»Generation Kunduz« gibt so der Mehrheit der Afghanen ihre Stimme zurück. Sie klingt uns vertrauter, als wir vermuteten.

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