Das Geschäft mit der Nachhilfe

Wer gut verdient, kann sich Zusatzunterricht für seine Kinder erkaufen

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 5 Min.
Privater Zusatzunterricht ist zum lukrativen Geschäft geworden. Neben vielen kleinen Anbietern sind regelrechte Lernkonzerne entstanden. Gut verdienende Familien können sich so Bildungsvorteile erkaufen.
Was die Schule nicht schafft ...
Was die Schule nicht schafft ...

Nachhilfe hat ihre Saison. Im Winter, nach den Halbjahreszeugnissen, geht es richtig los. Schlechte Noten, Lernstandserhebungen oder gar eine gefährdete Versetzung alarmieren besorgte Eltern. Im Sommer, wenn die staatliche Schule Pause macht, legen die privaten Bildungsfirmen Extraprogramme auf. »Die Ferien clever nutzen«, wirbt die Studienkreis GmbH, eine der Großen der Branche. Knapp 4000 Einrichtungen offerieren inzwischen ihre Dienste. 1,1 Millionen Schüler erhalten in Deutschland regelmäßig Nachhilfe, rund 1,5 Milliarden Euro beträgt der Jahresumsatz. Das schätzt eine Untersuchung, die die Bertelsmann-Stiftung 2010 vorgelegt hat. Jeder vierte 17-Jährige macht danach während seiner Schullaufbahn Erfahrungen mit bezahltem Zusatzunterricht. Den Bildungsforscher Klaus Klemm, einen der Verfasser der Studie, hat vor allem der wachsende Anteil der Grundschüler überrascht: »Wir vermuten, dass der Druck der Elternhäuser schon in diesem Alter zunimmt.«

Allein die beiden Marktführer, Studienkreis und Schülerhilfe, unterrichten rund 150 000 »Kunden«. Der bereits 1974 gegründete Studienkreis mit Sitz in Bochum gehört zur Franz Cornelsen Bildungsholding, laut Eigenwerbung »eine der größten privaten Bildungseinrichtungen Europas«. Unter diesem Dach sind neben mehreren Schulbuchverlagen rund 1000 Nachhilfeschulen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Luxemburg zusammengefasst. In die Schlagzeilen geriet der Studienkreis, als er 2007 ungewöhnliche Vertriebswege per Discounter beschritt. Beim Kaffeeröster Tchibo gab es günstige »Schnupperangebote«: ein Monat Nachhilfe in Mathe, Englisch oder Deutsch für 49,90 statt für 200 Euro.

Wichtigster Konkurrent ist die Schülerhilfe GmbH mit Sitz in Gelsenkirchen. Hinter dem brav und altmodisch klingenden Firmennamen verbergen sich auch hier weit verzweigte unternehmerische Verflechtungen. Was vor über 30 Jahren in unscheinbaren Räumlichkeiten im Ruhrgebiet begann, ist inzwischen Teil eines global tätigen Bildungskonzerns. Die Schülerhilfe ist eine Tochter des Sylvan Learning Center, des größten privaten Nachhilfeanbieters in Nordamerika. Das US-Unternehmen wiederum gehört zur börsennotierten Weiterbildungsgruppe Educate, die inzwischen für 535 Millionen Dollar vom Finanzinvestor Paragon Partners übernommen wurde. Die Schülerhilfe betreibt 1100 regionale Standorte in Deutschland und Österreich. Neben rund 200 eigenen Filialen vergibt sie überwiegend Lizenzen im Franchise-System an selbstständige Subunternehmer.

Studienkreis und Schülerhilfe decken zusammen erst 15 Prozent des Angebotes ab. Gemeinsam mit mittelgroßen Bildungsdienstleistern wie Lernwerk, Abacus oder Intellego ergibt sich ein Anteil von 25 Prozent. Der Rest des Nachhilfemarktes ist »grau« strukturiert. Neben lokal agierenden Mini-Instituten unterrichten ältere Schüler, Studenten, pensionierte Lehrer oder Freiberufler im privaten Wohnzimmer auf eigene Rechnung. Ein Teil dieser Arbeit wird jenseits von Steuer und Sozialversicherung erbracht. Die Preise schwanken stark: Eine Doppelstunde kann je nach Region, Ausbildung der Lehrkräfte und Form des Unterrichts zwischen sieben und 64 Euro kosten.

Die teureren Anbieter werben mit gezielter Vermittlung der richtigen Pädagogen und genauer Kontrolle des Lernerfolgs. Bei der Cornelsen-Tochter Studienkreis bleiben die Kinder und Jugendlichen im Schnitt 10 bis 14 Monate. Unterrichtet wird in Kleingruppen oder in den besonders kostspieligen Einzelsitzungen. Extras sind Wiederholungsstunden vor wichtigen Prüfungen und Intensivkurse während der Schulferien mit Eventcharakter. Das »Fußballcamp mit Lernschule« des Studienkreises ist eine Kombination aus Nachhilfe und Urlaub; »Sinus, Cosinus und Wattenmeer« wirbt die Schülerhilfe für einen Aufenthalt auf Sylt.

2006 kritisierte die Stiftung Warentest, dass manche Institute bis zu neun Kinder in eine Lerngruppe stecken. Sie monierte auch hohe Aufnahmegebühren und lange Vertragszeiten ohne Kündigungsmöglichkeit. Kurz zuvor war bekannt geworden, dass die Scientology-Sekte Nachhilfeschulen gegründet hatte, um jugendliche Mitglieder anzuwerben. Auch die rechtsradikale NPD versucht, sich mit kostenlosen Lernangeboten zu profilieren. Es gebe reichlich schwarze Schafe, eine Kontrolle finde kaum statt, lautete das Fazit der Warentester.

Schülerhilfe und Studienkreis lassen sich mittlerweile vom TÜV prüfen; der Interessenverband Nachhilfeschulen (Ina) hat ein Gütesiegel entwickelt, das Qualitätsstandards garantieren soll. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft will das »kommerzielle Nebenschulsystem«, so die GEW-Vizevorsitzende Marianne Demmer, der staatlichen Aufsicht unterstellen: Der Unterricht am Nachmittag sei eine öffentliche Aufgabe in Ganztagssystemen und dürfe nicht privaten Anbietern überlassen werden.

Eine Ursache für das blühende Geschäft mit der Nachhilfe sehen Experten im steigenden Leistungsdruck - beim Übergang in die weiterführende Schule, später durch die verkürzte Gymnasialzeit von acht Jahren. »Es ist offensichtlich, dass es Lücken gibt, die Eltern privat stopfen müssen«, sagt Ilse Führer-Lehner von der GEW in Nordrhein-Westfalen. Bildung müsse »ein öffentliches Gut« bleiben, denn Nachhilfe könnten sich »nur die leisten, die Geld haben«. Auf soziale Schieflagen deutet auch eine regionale Auswertung der aktuellen Bertelsmann-Expertise hin: Danach ist die Nachhilfe-Nutzung in Baden-Württemberg und Hamburg, in Bundesländern mit überdurchschnittlichem Einkommen also, besonders hoch. 19 Prozent der Schüler erhalten hier private Unterstützung, pro Kopf werden jährlich 131 Euro ausgegeben. In Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern sind es nur 74 Euro.

Der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann interpretiert den Boom der Nachhilfe als Misstrauensvotum der Eltern gegenüber staatlichen Institutionen. Überforderte Lehrer, zu große Klassen, hoher Anpassungsdruck - es gebe viele Gründe, warum Kinder im Unterricht versagen. Mitverantwortlich machen Fachleute das deutsche Halbtagssystem, das Hausaufgabenbetreuung und die Vertiefung des Stoffes ganz selbstverständlich an die Familien delegiert.

Müttern und Vätern fehlt entweder die Zeit oder die Qualifikation, manchmal auch beides, um ihren Kindern wirklich helfen zu können. Den Stoff höherer Gymnasialklassen haben selbst Akademiker längst vergessen. Eltern sind nicht die idealen Zusatzlehrer, in ihrer Doppelrolle als Tröster und Trainer sitzen sie ohnehin zwischen den Stühlen. Doch einen Pädagogen von außen zu engagieren sprengt so manche Haushaltskasse. Wer gut verdiene, spitzt Hurrelmann zu, verfüge schlicht über das Privileg, »sich einen Bildungsvorteil kaufen zu können«.

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