Fenster zur herrschaftsfreien Welt
Seit den 1960ern gedeihen in der Bundesrepublik Deutschland Betriebe, die selbstverwaltet wirtschaften
Sie haben ein Fenster in eine herrschaftsfreie Welt aufgetan. Selbstverwaltete Betriebe setzen auf die Kraft des Vorlebens und des Experiments, stellen sich den Herausforderungen der GrenzgängerInnen und versuchen, aus Träumen Leben werden zu lassen. Und das, obwohl heute utopisches Denken nicht gerade hoch im Kurs steht.
Die ersten Alternativbetriebe waren Druckereien, Verlage, Buchläden, Zeitungen und Zeitschriften. Es folgten Beratungs- und Bildungseinrichtungen, freie Schulen, Frauenferienhäuser, Teestuben, Cafés und Kneipen, Theater und Filmgruppen, Entrümpelungs- und Umzugskollektive, Betriebe aus dem handwerklichen Bereich, ökologische und energiepolitische Aktivitäten, selbstverwaltete Produktions- und Handelsbetriebe beispielsweise für Naturkost und Naturtextilien. Viele nahmen sich umweltschonender und energiesparender Techniken an.
Auch soziale und kulturelle Projekte wählten selbstverwaltete Betriebsformen. Die meisten waren »Betriebe ohne Chef«. Dazu gehörten die Arbeiterselbsthilfe in Oberursel, die Medienkooperative, die Tageszeitung (taz), Contraste als Zeitung in und für Selbstverwaltung, Radio Dreyeckland, die Schäfereigenossenschaft Finkhof, die UFA-Fabrik in Berlin und viele andere. Zum Teil bestehen sie noch heute.
Anders leben und arbeiten
Den AktivistInnen ging es damals nicht unbedingt ausschließlich um Arbeitsplätze und Einkommen. Sie wollten in erster Linie eine andere Art des gemeinsamen Lebens und Arbeitens. Als Gruppe hatten sie den Vorteil, dass sie sich die Menschen, mit denen sie arbeiten wollten und von denen sie freilich auch abhängig waren, selbst aussuchten.
Menschen in Alternativbetrieben arbeiten und leben idealtypisch ganzheitlich, das heißt, ihre Tätigkeiten umfassen Planung, Ausführung und Kontrolle des Produktionsprozesses und der Produkte und Dienstleistungen. Sie können die erworbenen fachlichen und sozialen Qualifikationen einsetzen und weiterentwickeln und werden zudem in der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit unterstützt. Lernen in einem Alternativprojekt bedeutet, sich über eigene Erfahrungen und Entdeckungen, auch im Umgang mit Anderen, neues Wissen anzueignen. Gemeinsam schaffen sie sich ein Meinungsbild über politische Probleme und wirken aktiv an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens und Arbeitens mit. Viele Genossenschaften und »Alternativbetriebe« sind beispielhaft für eine neue Arbeitskultur, die sich gegen die Massenverschleißgesellschaft, in der immer wieder neue Güter produziert werden, wendet. Dabei geht es nicht einfach um Verzicht. Die AkteurInnen sehen ein, dass ihnen immaterielle Werte oft ebenso wichtig, vielleicht sogar wichtiger sind, als materielle Werte.
Von den Gewerkschaften wurden die Projekte vielfach als »romantische Nischen«, ihre Akteure als »Saboteure sozialer Normen oder als Tarifkonkurrenz« wahrgenommen, weil sie Betriebsverfassung und Tarifverträge ablehnten. Beliebt waren sie aber auch bei den Unternehmern nicht. Diese bekämpften den alternativen Sektor wegen der anderen Preisgestaltung als unlautere Konkurrenz oder sie geißelten die antikapitalistische Zielsetzung.
Kollektive Zusammenhänge sind keineswegs gefeit vor Hierarchien. Auch in links-politischen Projekten gibt es informelle Hierarchien und mancher Konsens wird eher durch Überreden als durch wirkliche Überzeugung erreicht. Informelle Hierarchien sind oft schwieriger zu durchschauen und zu durchbrechen, als formalisierte. Oft fühlen sich die besser Informierten überfordert, weil sie auch diejenigen sind, die die Informationen geben müssen, während andere sich in ihren Beteiligungsmöglichkeiten eingeschränkt oder vor vollendete Tatsachen gestellt sehen. Das verschleißt mitunter Energien.
Eigenverantwortliche Umsetzung motiviert
Nach einer Studie, die 1997 über hessische Betriebe veröffentlicht wurde, waren rund die Hälfte der Betriebe nach zehnjährigem Bestehen immer noch im Wesentlichen selbstverwaltet und betrachteten ihr regelmäßiges Plenum als Kernstück der Entscheidungsfindung. Ebenso kommt zeitweiliges Überschreiten der Arbeitsteilung in vielen Betrieben zumindest als gegenseitig Hilfe vor. Die andere Hälfte der einst selbstverwalteten Betriebe hatte sich Transformationsprozessen unterzogen und die kollektiven Strukturen aufgegeben. Kapitalmangel waren die am Häufigsten angegebenen Gründe für den Wechsel zum »normalen« Betrieb mit Chef, Betriebsrat, Tarifverträgen und Betriebsordnungen. Wirtschaftliche Krisen waren der Hauptauslöser von Transformationsprozessen. Am stabilsten in ihren selbstverwalteten Ansprüchen haben sich diejenigen Betriebe erwiesen, in denen politische Bindungen bestanden. Die Motivation, eigenverantwortlich die gemeinsam getroffenen Entscheidungen umzusetzen, war in allen in die Untersuchung einbezogenen Betrieben deutlich höher als in »normalen« Kleinbetrieben. Die Studie ist jetzt 15 Jahre alt. Neuere Studien gibt es noch keine, obwohl sie nicht nur möglich, sondern auch interessant wären, denn etliche Betriebe sind inzwischen bereits 30 und mehr Jahre alt.
Gisela Notz, Jahrgang 1942, ist Sozialwissenschaftlerin und Historikerin. Sie engagiert sich in der autonomen Frauenbewegung und in Gruppen der alternativen Ökonomie.
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