Invasion von innen
Bolognareform und der »Teufelskreis der Bürokratie«
Sie wirkten etwas verloren in den hohen Hallen, die etwa 400 Teilnehmer aus über 50 Ländern, die letztes Wochenende in Bukarest zusammenfanden. Kein Wunder, Tagungsort war der rumänische Parlamentspalast, den der Diktator Nicolae Ceauşescu Mitte der 1980er Jahre erbauen ließ und den die Rumänen ob seiner schieren Größe das »Monster« nennen. Heute ist der Palast ein Magnet für Touristen. Vergangenes Wochenende ging es aber auch in den Straßen vor dem Palast eher ruhig zu. Anders als in Wien 2010 zogen keine Studentenmassen protestierend durchs Zentrum, obwohl es genug Anlass zum Protest gegeben hätte. Die Entfernung der Macht von der Realität des Lebens spiegelt sich in der Wahl des Ortes gut wider, auch der Bolognaprozess in seinem dreizehnten Jahr ist zu einem bloßen Machtinstrument, fern von der universitären und sozialen Wirklichkeit verkommen.
Der beste Beweis dafür ist das sture Beschließen und Erklären von Zielen und Prioritäten, das Salbadern von »Studienqualität« und »Innovation«, von »sozialer Dimension« und (neu!) »ausgewogener Mobilität«. Als ob nicht Studenten in Belgrad am selben Tag gegen Studiengebühren in Hungerstreik getreten wären, oder, eine Nummer größer, der Internationale Universitätenverband IAU nicht eine Woche früher vor den Schäden der Hochschulinternationalisierung für ärmere Ländern gewarnt hätte.
Man braucht nicht in die Ferne schweifen. Die Probleme, die der Bolognaprozess im Innern Europas, im Innern der Universitäten verursacht hat, sind schwerwiegend. Und umso schwerwiegender ist, dass die in Bukarest vereinten einflussreichen Bildungsexperten und -politiker nicht die Seriosität besaßen, diese wichtigen Probleme zu diskutieren und in die Fachwelt und breitere Öffentlichkeit Europas zu tragen.
Der Bolognaprozess hat nämlich, im Gegensatz zu seinen erklärten Absichten, die Mobilität der Studierenden nicht vereinfacht, sondern verkompliziert. Er hat die Studiengestaltung - auch derer, die die Studienpläne schreiben - zu einem Puzzlespiel gemacht, das geistige Energien verschwendet, die Auswahlmöglichkeiten einschränkt, die inhaltlichen Bezüge der Studieninhalte und die Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden zerstört. Durch die Einführung der ECTS-Punkte und der Module, in denen die Kurse miteinander kombiniert werden müssen, ist die Prüfungsdichte stark angewachsen und mit ihr ein neuer Bürokratie- und Überwachungsaufwand.
Der Bielefelder Soziologieprofessor Stefan Kühl hat vor Kurzem ein Buch veröffentlicht: »Der Sudoku-Effekt. Hochschule im Teufelskreis der Bürokratie«, in dem er auf die verheerenden Folgen der Bolognareform an den Hochschulen aufmerksam macht. Er zeigt darin nicht nur, wie die Arithmetik des Leistungspunktesystems ECTS dazu führt, dass Ausnahmen und Ausnahmen für Ausnahmen notwendig werden und dass Universitäten bei der strengsten Anwendung der komplizierten Regeln nicht anders können, als ihre Übertretung stillschweigend zu tolerieren. Hinzu kommt, dass die Verantwortlichkeiten für Reformen und Entscheidungen in der Hochschulpolitik durch den Bolognaprozess immer weiter verwischt werden - sind es die Bildungsminister, die Hochschulleitungen, die Fakultäten oder doch wieder die Studenten, die durch ihr Versagen verhindern, dass »die Bildung zum Motor der europäischen Wirtschaft« werden kann? Auch die Delegierung der Entscheidung über Qualität und »Studierbarkeit« an Qualitätsagenturen, die an keine akademische Praxis und demokratische Legitimierung gebunden sind, geißelt Kühl in seinem kenntnis- und detailreichen Buch.
Gefragt nach der in Bukarest gefassten Abschlusserklärung sagt Kühl: »Das Kommuniqué zeigt, dass es den europäischen Bildungsministern in zentralen Elementen des Bolognaprozesses - der Untergliederung in Bachelor, Master und Promotion, der Nutzung des ECTS-Systems, der Qualitätssicherungsagenturen und dem Qualifikationsrahmenwerks - um »ein Weiter so« geht. Das Verfehlen der Ziele besonders im Bereich der Studierendenmobilität wird nicht auf grundlegende Fehler in der Reform zurückgeführt. Stattdessen wird ein Mehr der ›Bologna-Medizin‹ als Lösung gesehen.«
Für Kühl ist klar, dass keine Auseinandersetzung mit der Fehlentwicklung des Bolognaprozesses stattgefunden hat. »Schon jetzt hat die Einführung der ECTS-Punkte an den Hochschulen bis dato nicht gekannte Planungsmonster produziert. Die für das Lernen zuständigen Bildungsminister zeigen, dass sie selbst nicht bereit sind, aus den ungewollten Nebenfolgen ihrer Reform zu lernen.«
Das Buch »Der Sudoku-Effekt« kann nur jedem Rektor, Professor und Bildungspolitiker empfohlen werden - es hätte auf der Bolognakonferenz in Rumänien verteilt werden müssen. Doch wollten die Teilnehmer tatsächlich lernen? - Für die einen, die Rektoren, die Forschungsdirektoren und Ministerialbeamten ist der »europäische Hochschulraum« ein boomender Wirtschaftssektor mit ungeahnten Karrieremöglichkeiten. Für die anderen, die Wissenschaftler und Statistiker, bedeuten wachsende Komplexität und wachsende Abhängigkeit von Expertise volle Auftragsbücher.
Die Zeche zahlt die Gesellschaft von morgen, d.h. die Schüler und Studierenden von heute. Nicht nur, dass sich Studieren zunehmend verteuert und immer weniger lohnt, nicht nur, dass die durchrationalisierte Universität als Ort des Wachsens und des kritischen Denkens verloren geht. In England, dem euroskeptischsten EU-Mitglied, hat man es längst bemerkt: Der Bolognaprozess ist ein großer Gleichmacher, der wahres Talent und hervorragende Universitäten begräbt. Die Phantasielosigkeit der Forderung nach immer mehr Mitteln für die Bildung (und versteckten Subventionen in der Forschungsförderung) verdeckt die Tyrannei der Mittelmäßigkeit und die Vetternwirtschaft, die dieser Bildungsreform innewohnen. Wird man es auf dem Kontinent bemerken, bevor es zu spät ist?
Stefan Kühl: Der Sudoku-Effekt - Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie. Eine Streitschrift, Verlag [transcript], Bielefeld 2012, 172 S., 19,80 Euro.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.