Im Zeitraffer
Theatertreffen Berlin: »Before Your Very Eyes«
Das Leben ist ein Terrarium, in dem die Wünsche eine Weile künstlich am Leben gehalten werden. Dem sehen wir hier zu: dem Wachsen und Sterben dessen, was unser Leben ausmacht. Ein Weile wenigstens.
Das Geschehen dieses Abends: hinter Glas. Die Grenzen sind zwar durchsichtig, aber darum doch nicht durchlässig. In der gläsernen Box spielen sieben Kinder auf der Grenze zur Pubertät sich selbst in unterschiedlichen Lebensaltern, bis es dann unbekümmert heißt: »Können wir jetzt das Sterben machen?« Dieser Lebensbogen hier hat es in sich: eine fröhliche Wissenschaft des Sterben-Müssens, Menschenleben wie unter dem Mikroskop. Erstaunlich welch physische Präsenz diese jungen Schauspieler hier entwickeln, welch elementarer Spielwitz sofort die Atmosphäre bestimmt. Wir sehen: die immer weitere Entfernung vom Anfang, jener Kindheit, die als Erinnerungsraum dennoch gegenwärtig bleibt.
Verlieren wir nur etwas, wenn wir älter werden, oder gewinnen wir auch etwas? Gewiss, der Durchblick wächst, aber sonst? Gegen die Glasscheibe drücken die da drinnen immer noch und immer wieder vergeblich die Gesichter: der Ausblick nach draußen, nach drüben in jene andere Welt, die wir Zuschauer repräsentieren, ist versperrt. Wir sind hier Teil der Perspektive Gottes: eine Stimme, eine weiche Frauenstimme aus dem Off fragt die im Glaskasten Gefangenen sehr grundsätzliche Dinge, die kein Mensch beantworten kann. Ein Interview, in dem die Vergänglichkeit der Ewigkeit antworten soll. Irgendwann winken die Insassen ihres Lebens dann ab: Es geht auch ohne diese Stimme seinen vorhersehbaren Gang.
Wir sehen eine weitverzweigte Koproduktion mit neun beteiligten Theatern der internationalen freien Szene u.a. in Gent, Düsseldorf, Groningen, Frankfurt am Main und dem HAU Berlin. Gesprochen wird holländisch, Regie hatte Gob Squad. Im Grunde ist es ein Totentanz, dem wir beiwohnen, aber mit freundlichen Augen gesehen. Und vor allem: die Kinder sind jederzeit Herr des Geschehens, wenn auch in den engen Grenzen ihres gläsernen Transitraums zwischen Zeiten und Zuständen. Rechts und links kontrastieren Videobilder das Geschehen, ein früheres Ich befragt ein späteres, das die gestellten Fragen oft gar nicht mehr versteht oder verstehen will. Welch ein unwiderstehlicher Wunsch nach Autonomie und Selbstverwirklichung ist da in den Anfängen spürbar! Mit neunzehn: Ich kann Geld verdienen, eine eigene Wohnung haben, Sex haben, Auto fahren ...
Der Traum, einmal etwas Besonderes zu werden jedoch, verläuft sich für die meisten in jenem Alltag, der ein Vampir ist. Er saugt die Sehnsucht aus uns heraus. Die Ansprüche werden mit der Zeit kleiner: Es genügt bereits, wenn bestimmte Dinge wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit nicht anwesend sind, um zufrieden zu sein, jedenfalls fast.
Den übersprudelnden Worten folgen wortkarge Floskeln, oder man schweigt ganz, zuckt mit den Schultern. Selbst wenn wir nichts mit dem Leben machen, es macht doch fortwährend etwas mit uns. Der Mensch mit fünfundvierzig: »Ich kann etwas erklären, ohne es selbst verstanden zu haben.« Man trennt sich, aber das ist kein Drama, so sagt man. Um schlafen zu können, sind nun Tabletten notwendig, aber darüber muss man nicht reden. Man liest im Buch des Lebens wie über das Etikett einer hoffentlich guten Flasche Rotweins gebeugt; wohl wissend, diese gehört zu den erwärmendsten Erlebnissen, die das Leben noch zu bieten hat.
Der Abend funktioniert in all seiner präzise choreografierten Anarchie, die doch immer eine dahinterliegende, unveränderbare Ordnung spiegelt. Er überwältigt selbst (oder gerade) dann, wenn man sich nach der Beschreibung des hier Ablaufenden nur mit großer Skepsis darauf einzulassen gewillt ist. Diesen Kindern gelingt es, das miniaturisierte Thema des Lebens in ein unterhaltsames Spiel zu bringen, das seinen Ernst doch nie vergisst.
Am Ende laufen sie dann als unermüdliche Rentner wie bei einem Geriatrie-Wettbewerb auf der Stelle. Es geht darum, am längsten durchzuhalten, als Letzter die Ziellinie Tod zu überqueren. Einer nach dem anderen fällt um. Eines der gauhaarigen Mädchen-Omas hält besonders lange durch, bis die milde Stimme ihr sagt, sie könne nun aber doch auch aufhören. Was dann passiert? Auch das ist hier zu hören in aller Sachlichkeit: »Sie holen einen Sarg und tragen dich weg.«
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