Ausnahmslos faltenfreie Photoshopvisagen
MEDIENgedanken: Wie »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« das Fernsehen verändert hat
Wer Endlosserien am Vorabend verstehen will, sollte seinen Briefträger fragen. »So doof, wie die Verena rausgeschrieben haben«, empört sich zum Beispiel dieser über das, was wie HSV, LSD und GEZ längst Teil des Abkürzungskanons ist, »konnte ich nicht mehr zugucken«. Voriges Jahr nämlich kam die Blondine, gespielt von Susan Sideropoulos, bei einem Unfall unter die Räder. »Anstatt einfach fortzuziehen«, regt sich der Mittdreißiger noch heute auf, »wie damals Jeanette Biedermann.« Und dann kommt's: »Das wär' doch viel realistischer als dieses ständige Sterben.«
An dem Punkt muss man kurz einhaken. Es gibt in der Tat ungewöhnlich viele Tote bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, besser bekannt als GZSZ. Bis zur Folge 5000, die am vergangenen Mittwoch lief, sind gut drei Dutzend Figuren verschieden, meist auf unnatürliche Weise. Bei gut 200 größeren Sprechrollen in 20 Jahren ist das eine Mortalitätsquote von rund 15 Prozent, extrem hoch also, da hat der Postbote Recht. Aber ehrlich - als Jeanette Biedermann den Set 2004 nach fünf Jahren gen Anschlusskarriere verließ, ging ihr süßes Postergirl Marie - kein Witz! - in ein rumänisches Kloster, um obdachlosen Kindern zu helfen. Leben pur bei RTL.
Womit dreierlei belegt wäre: GZSZ hat mit der Realität wenig zu tun. Der geneigte Zuschauer bewertet die Oberflächensause dennoch nach streng wirklichkeitsbezogenen Kriterien. Und deshalb erzielt der Marktführer im lukrativen Segment unnützen Fernsehens Tag für Tag um 18.40 Uhr einen Gutteil aller Werbeeinkünfte - mehr als 200 Millionen Euro pro Jahr, heißt es. Man darf die Ursuppe hiesiger Seifenopern also gern als das titulieren, was sie ist: leidlich unterhaltsamer Unsinn; genau der aber prägt sein Publikum so, wie GZSZ sein ganzes Genre, ach was: das Medium insgesamt geprägt hat.
Warum, das weiß auch Rainer Wemken nicht so genau. Bei jener Daily Soap, die er seit 15 Jahren als Produzent verantwortet und lieber »tägliche Serie« nennt, gibt es ja »keine Geheimformel wie bei Cola, sondern nur die Kunst des Erzählens im aktuellen Zeitgeist«. Das sei eben keine »Lindenstraßen-Relevanz« mit ihrer zwanghaften Abbildung gesellschaftlicher Probleme von Abschiebung illegaler Ausländer bis zur aktuellen Landtagswahl, »eher so eine Vorabendrelevanz«. Durchaus verantwortungsbewusst, betont Wemken (59). »Aber wir sind keine moralische Instanz«. Dem ist nicht zu widersprechen.
Als am 11. Mai 1992 die Pilotfolge auf einem Kanal lief, der noch von »Tutti Frutti« oder dem Hütchenspieler Salvatore repräsentiert wurde, ging es RTL nur ums Sparen. Und so sah GZSZ auch aus: Darsteller, die im Schultheater nicht mal Komparsen wären, mit Dialogen, die ausnahmslos dem australischen Vorbild »The Restless Years« entstammten, in Kulissen wie von der Resterampe insolventer Möbelhäuser - nie zuvor war Fernsehen so billig, war billiges Fernsehen so erfolgreich, war erfolgreiches Fernsehen so wirksam. Von »Marienhof« (ARD) über »Die Wagenfelds« (Sat.1) bis »Jede Menge Leben« (ZDF) starteten in fünf Jahren neun Kopien, hälftig produziert vom GZSZ-Hersteller Grundy UFA und allein auf eins ausgelegt: Masse.
Sie wurde stilbildend fürs Medium. War es bis dato eher Handwerk, wurde Fernsehen nun Fließbandware. Bildete Schleichwerbung bislang den Ausnahmefall, geriet sie nun zum Strukturmerkmal. Galt Realitätsbezug auch in heiteren Formaten als dramaturgisches Grundprinzip, ging es fortan um Anleitungen zur Sorglosigkeit. Sollte der Vorabend Familien erreichen, öffnete ihn RTL-Chef Helmut Thoma für sein sinnloses Zielgruppenkonstrukt der 14- bis 49-Jährigen - und gewann. Denn auch ARD und ZDF konnten sich dem Sog der Schäbigkeit nicht entziehen und wurden - nicht nur auf diesem Sendeplatz - zu öffentlich-rechtlichen Kommerzkanälen. Im Werberahmenprogramm wurden Gesichter bedeutsamer als Worte, Ausstattung wichtiger als Sendeaufträge. Doch nirgends funktioniert all dies besser als bei GZSZ, das im Schnitt noch immer gut die Hälfte der 6,7 Millionen Zuschauer erreicht, die im Juni 1998 zusahen, als ein Kanzlerkandidat namens Schröder seine Aufwartung machte. Er war nicht der einzige Gaststar: Auch Gottschalk und Kerkeling, Klaus Wowereit, ja selbst der Literat Rolf Hochhut sanken zum Accessoire für die Kernklientel konsumsüchtiger Teenies.
Sie ist jedenfalls jung genug, um von der fett- wie verantwortungsfreien PR-Ästhetik aus Babelsberg beeinflussbar zu sein, die bis auf den Quotendicken Thomas »Tuner« Drechsel ausnahmslos faltenfreie Photoshopvisagen duldet. Und die mit Alexandra Neldel, Jan Sosniok, Denise Zich oder Caroline Beil als Sprungbrett fürs Romanzenfernsehen firmiert. Deshalb heißt der Titelsong auch »Ich seh' in dein Herz«, nicht »in dein Hirn«. Das braucht man für GZSZ eher selten.
Der Autor ist freier Medienjournalist und Kritiker und lebt in Hamburg.
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