Wuttke wühlt

»Der eingebildete Kranke«, nach Molière, an der Berliner Volksbühne

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Es sind viele. Frappierend viele. Der eine keucht, der andere kräht, der nächste spuckt. Der dort drüben brüllt, und der da, der kotzt. In wechselnden Augenblicken wechselnde Giftgnome und Zankzwerge. Ein ständig arbeitender Reigen von Verhaltensstörungen. Sie bevölkern die Bühne. Alle nahezu gleichzeitig. Es röhrt und raunt. Es jammert und wimmert. Es mault und jault. Es röchelt und japst. Immer geht einer gerade zugrunde, und immer erwacht einer zu peinigendem, grollendem Leben. Einer knarrt, ein zweiter knurrt, ein dritter winselt nur. Es dröhnt, es fiebert und hiepert. Es feixt, es blökt und blafft. Es mümmelt und meckert. Die Gesichter wechseln auch, sind aber sämtlich so abstoßend wie Galle. Die Augenhöhlen spielen schwarzes Loch oder glühenden Vulkan, die Körper verbarrikadieren sich quasi in sich selber oder aber jagen durch die Raumdiagonale. Sie stolpern oder staken, stampfen oder stürzen, biegen sich oder schnellen auf, schleichen und schlurfen, sie rasen oder kauern, sie kriechen oder stolzieren. Lauter Gespenster im Nachthemd, ein Flattern und Fluchen, jetzt versucht sich einer als Majestät, im nächsten Moment krümmt sich an gleicher Stelle ein Elendsbündel.

Das zuckt und zappelt, das zetert und zauselt, grässlicher geht’s nicht, aber hässlicher immer. Wahrlich, es sind so viele Angstfressen und Peinigervisagen und Dummhirne und Befehlskomiker und Käferseelen. Viele, viele, viele.

Und doch sind sie alle nur einer, denn nur ein einziger Schauspieler treibt und wühlt sich da durch sämtliche Spielarten der Unsympathie: Martin Wuttke. Wechsel-Balg. Chamäleon zahlreichster physisch-psychischer Belagerungszustände, unter denen ein Mensch leiden kann. Das ist er also: Monsieur Argan.

Was Wuttke liefert, wie er zündelt und schlangenschnell züngelt, wie er mit dem Stock gegen alle Körper fuchtelt, so, dass jeder Mitspieler das Recht hätte, sich aus Selbsterhaltungsgründen den Waffenschein zeigen zu lassen - das ist goldbarrenglänzende Schmiere, ist eine ganz große Metamorphosenchose. Ist Verwurstung, aber erhoben in den Adelsstand der Verhanswurstung. Freilich wäre er nicht einer der Großen des Theaters, flackerte da nicht im Dumpfdunkel, in greller Gaukelei und Groteske stets auch die wehe Dünnhäutigkeit des fürchterlich verlorenenen und verunsicherten Menschen durch.

Und das in einer Inszenierung, die als Motto »zum totlachen!« quer über den rot-weiß gestreiften Bühnenvorhang legt. Der hebt sich überm Bieder-Salon, den Bert Neumann baute, mit einem Fenster, aus dem die Frauen in verquerer Akrobatik ins Hintergelass plumpsen können. Und mit einem großem Ohrensessel, darin Wuttke leichenlethargisch und grabestief versinkt, oder er erklimmt die Lehne bäuchlings, damit sich die hintere Gegend seines Dürrleibs dem gigantischen Klistier entgegenrecken kann - dessen innenlebenreinigendes Wasser ihm vorn wieder aus dem Mund sprüht. Die sammelnde Schüssel wird vom Dienstmädchen dann hurtig, bäh-grimassierend, in den Zuschauerraum gekippt.

»Der eingebildete Kranke« von Molière an Berlins Volksbühne, von Martin Wuttke gespielt und inszeniert, auf dem Programmzettel prangt groß das Grimmgesicht von Frank Castorf - alle Zeichen stehen auf Jux. Spöttelei gegen den Medizynismus des Arztgewerbes, Vaterliebe als Geschäftsgebaren, Egoismus kontra Zuneigung, ein paar Gedankenspritzer Artaud, einige Kleinhiebe gegen das Läuternde in der Kunst - im Gastmahl, das Wuttke anrichtete, sind auch ein paar Schlaftabletten verrührt. Aber das obligat mit Video bestückte Spiel um Menschen, die sich dauernd totstellen, um nicht am wahren Zustand ihres Lebens zu sterben - es erhält sich seinen Grundcharme immer wieder durch Wuttke selbst und durch die freche, selbstverständliche Kombination seiner schreckensirren Seelenmeisterei mit den Techniken des groben, ungelenken, souverän dilettantischen Castorfs-Theaters.

Maximilian Brauer, Margarita Breitkreiz, Jean Chaize, Abdoul Kader Traoré spielen mit klarem Auftrag: radebrechen, verballhornen, pathetisch überdrehen, immer druff ohne Abtönung. Hendrik Arnst, Volksbühnen-Barde der ersten Castorf-Stunde, präsentiert seine Stimme, die ein dröhnender Gewaltakt ist, und wenn er mit raffinierter Einfalt fremde Klugtexte spricht, kommt man auf den höllischen Gedanken des Vergleichs: Achim Menzel sei, wenn er singt, ein Urvater der modernen Philosophie. Das Stück erzählt vom eingebildeten Kranken, Brigitte Cuvelier als Argans Ehefrau müht sich im Rollstuhl: Nicht die Kunst übertreibt, sondern das Leben - die Schauspielerin trägt am Fuß eine gehörige Ladung Gips.

Großartig Lilith Stangenberg aus Zürich, sie gibt Argans zwei Töchter: große Augen, große Intensität, große Wirkung - als hätten Sophie Rois und Kathrin Angerer zu einer fantastisch neugeschöpften Mitte gefunden. Wenn sie jetzt noch High Heels tragen würde, stünde sie inmitten der Diven-Galerie der Volksbühne wie eine, die hier geboren wurde. So grandios sah man lange keine Schauspielerin der Länge nach auf den Bühnenboden knallen, aber so, dass man sie auch mit einer herabschwebenden Feder verwechseln könnte. Wenn Argan sie aufheben will, steigert sich das bei Wuttke und Stangenberg zur schreiend komischen, chaplinesken Laokoon-Gruppe zu zweit.

Martin Wuttke, der nunmehrige Burgtheater-Spieler, beim Heimatspaß bei Castorf. Argan, ein böser Strick, aber das Ganze kein Seil überm Abgrund. Molière nicht schaurig, aber doch sehr wohl zum Schauen. Auch wenn die Inszenierung also nicht außergewöhnlich tief zielt - eine Gelegenheit, diesen bestechend komödiantischen Wuttke versäumen zu wollen, die muss erst noch erfunden werden.

Nächste Vorstellung: 15. Juni

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