Opernhaus im Sturm
Über Christoph Schlingensief: Knistern der Zeit von Sibylle Dahrendorf
Was ist es, dieses »Knistern der Zeit«, das Sibylle Dahrendorf zum Titel ihres Films machte? Die Patina der Vergänglichkeit, die den Dingen erst ihren Wert gibt, sie in eine neue Perspektive rückt.
Als Christoph Schlingensief nach Burkina Faso reiste, war er auf der Suche nach einem Platz für jenes Opernhaus, das er in Afrika errichten wollte. Sein Vermächtnis? Er war bereits schwer krebskrank, als er diese Reise unternahm. Afrika, das ist immer das Unbekannte, das »ganz andere«, als das es Arthur Rimbaud beschworen hatte. Dann gab der jugendliche Dichter das Schreiben auf und wurde Händler in kolonialem Auftrag. Die brutale Realität: Ein Schock, ein Verlust des Traums, den er nicht lange überlebte. Schlingensief glaubt - anders als Rimbaud - nicht daran, dass Afrika das »ganz andere« ist - es ist ein Teil unserer Welt, ein benachteiligter zumal.
Warum also ein »Operndorf« in Burkina Faso? War es nur eine weitere seiner schrillen Aktionen, mit denen er die Medien beherrschte? Nein, die Krankheit hatte ihn stiller gemacht, tiefer auch in seinem Fragen nach dem, was den Menschen zu Menschen macht. Und so sah er sich hier: »Kein goethereisender Kunstschnösel, der den Afros mal zeigt, was deutsche Kultur so alles kann, sondern ein blasses europäisches Blatt, das sich zur weiteren Belichtung nach Afrika begibt.« Da wollte jemand nicht an seinem Schicksal verzweifeln, sondern das Geheimnis der Existenz auf immer neue Weise erleben.
Und so beginnt dieser zwischen Mai 2009 und Oktober 2011 entstandene Dokumentarfilm von Sibylle Dahrendorf, die Schlingensief auf seinen Reisen begleitete - und auch dann noch auf die Baustelle kam, um zu sehen, was wird, als er bereits gestorben war. Da ist in der ersten Szene ein bereits von der Krankheit ausgezehrter Mensch. Er hat sein Handy einfach irgendwo in die Savanne gelegt und spricht - mit sich, mit der Welt, mit Gott. Irgendwie muss er seine Begeisterung loswerden, endlich den geeigneten Ort gefunden zu haben, völlig egal, dass nun das Handy falsch herum liegt und ihn darum auch schon mal auf dem Kopf stehend zeigt. Vielleicht liegt es auch absichtsvoll schräg, denn so was mochte er: die Dinge wie zufällig so zeigen, wie sie auch sein könnten.
Am Anfang ist da eine überwältigende Aussicht: Afrika ist für Schlingensief das Synonym für ein anderes, nichtentfremdetes Leben. Der unbekannte Kontinent in uns selbst! Alle Expedition, die etwas wagt, führt dorthin, wo sich die verschiedenen Wirklichkeitsebenen und Zeitrechnungen aneinander reiben, solange, bis es vor Erwartung knistert. 2008 stand er erstmals an jener Stelle, die für das Operndorf wie geschaffen schien: Es gibt hier keinen Strom und kein Wasser! Gibt es denn Wind? Ja, zu Beginn der Regenzeit sogar Sturm, antwortet ihm Diébédo Francis Kéré, der Architekt, der hier aufgewachsen ist und in Berlin studiert hat. Es könnte keine bessere Antwort auf die Frage geben: ein Opernhaus im Sturm!
Aber was ist das überhaupt für eine Idee, eine Art Bayreuth mitten in der afrikanischen Savanne zu bauen? Es ist vor allem ein wahres Spiel mit unseren falschen Vorstellungen. Denn das Projekt ist alles andere als ein abgehobenes Event - es ist der langfristige Plan, ein ebenso modernes wie mit der afrikanischen Tradition verbundenes Modelldorf zu bauen. Oper ist dabei nur die Metapher für jene Festlichkeit, die das Herz des neuen Dorfes werden soll.
Im Februar 2010 sind wir bei der Grundsteinlegung dabei. Schlingensief spricht - wenige Monate vor seinem Tod - von seinem Traum, dass Kunst heilen könne, dass sie »Balsam für die Seele« sei. Das ist eine alte romantische Vorstellung, aber aus dem Munde Christoph Schlingensiefs klingt diese unbedingte Erlösungsbereitschaft bereits wieder anarchistisch. Sibylle Dahrendorf erinnert sich an die Bedrängnis, in der er sich befunden habe, dieses: »Was bleibt von mir eigentlich übrig, wenn ich schon weg bin?«
So blickt ihr Film nach Schlingensiefs Tod zurück auf den inspirierenden Träumer, der Trugbilder von Ordnung mit Vorliebe durcheinanderbrachte und gerade darin ein Realist war. Dieser Film nimmt den Rhythmus Afrikas auf, ohne ihn jedoch bloß exotisch auszustellen. Er ist ihr ein selbstverständliches Teil des eigenen Lebens geworden - so wie auch für Schlingensiefs Lebensgefährtin Aino Laberenz, die das Projekt fortführt.
»Knistern der Zeit« endet mit der Einweihung der Schule des Operndorfes. Fünfzig Kinder wurden eingeschult, jetzt folgen die nächsten Klassen. Übrigens sollen die Kinder bereits von Anfang an lernen, mit der Kamera umzugehen, moderne Medientechnik zu nutzen. Etwas vom (chaotischen) Handy-Filmer Schlingensief bleibt so lebendig. Die Krankenstation ist im Bau, zahlreiche Häuser sind bereits bezogen.
Aber wo ist eigentlich die Oper? Sie bildet das magische Zentrum des Dorfes, die große Leerstelle, die mit etwas zu füllen sein wird, was erst noch heranwächst. So utopisch wie realistisch hat es Schlingensief selbst noch formuliert: »Remdoogo soll ein Gesamtkunstwerk werden, in dem man lebt und die höchste Kunstform des Zusammenlebens studieren kann. ... Und wenn dann die ersten Besucher zu uns kommen, dann werden sie vielleicht eine Opernsängerin suchen, die ganz wunderbar singt, aber vielleicht hören sie dann den Urschrei eines neugeborenen Kindes, das gerade in unserer kleinen Krankenklinik hier im Operndorf zur Welt gekommen ist.«
Der Operndorf-Traum in Afrika lebt fort: angewandte Utopie.
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