Ein Plädoyer für Oblomow
Vor 200 Jahren wurde Iwan Gontscharow geboren, sein berühmtester Roman ist neu übersetzt
Mit zweiunddreißig ist Ilja Oblomow nur eine winzige Zeitspanne von dem Alter entfernt, in dem die Dichter seiner Epoche in Duellen oder an heimtückischen Krankheiten sterben. Doch Kampf ist nicht Sache des Adligen mit der »weichen« Seele und den »weichen« Bewegungen, die einer »gewissen Grazie der Trägheit« nicht entbehren. Zwei Jahre lang Staatsbeamter ohne Karrieresprung, misstrauisch gegenüber heiratslustigen Damen, nach dem Tod der Eltern Gutsbesitzer und Herr über 350 Seelen, lebt er zurückgezogen im Zentrum Petersburgs. Sein Normalzustand ist das Liegen auf dem Diwan, das bevorzugte Kleidungsstück der orientalische Chalat. Plagen ihn Zweifel oder Ängste, erstirbt die Aufregung schnell in Apathie. Dabei quälen ihn zwei existenziell bedrohliche »Kümmernisse« - ein Brief des Dorfältesten verheißt weniger Einkünfte, und der Hauswirt kündigt die Wohnung. Oblomow müsste eine Idee entwickeln, einen Plan schmieden, Maßnahmen ergreifen, kommt aber über gute Vorsätze nicht hinaus.
Eine gewisse Erklärung dafür liefert »Oblomows Traum«, das 1849 vorveröffentlichte Romankapitel über Kindheit und Jugend auf dem elterlichen Gut Oblomowka, jenem idyllischen Erdenwinkel, in dem alles »seinen gewohnten, von der Natur vorgeschriebenen normalen Gang« geht. Hier gilt die einzige Sorge dem Essen und der Mittagsruhe, wird Arbeit als Strafe erduldet. Der Knabe wird wie eine Pflanze im Treibhaus erzogen, die Kinderfrau und der Diener Sachar lesen ihm jeden Wunsch von den Lippen ab. Der Schulunterricht, den Ilja bei dem benachbarten deutschen Gutsverwalter Stolz gemeinsam mit dessen Sohn Andrej absolviert, wird als notwendiges Übel angesehen.
Der erwachsene Ilja bekennt offen, dass er faul ist. Seine Faulheit aber entspringt nicht nur dem anerzogenen Naturell, sie ist auch eine Protesthaltung gegenüber der Gesellschaft, in der »Interessen des Geistes oder des Herzens« keine Rolle spielen, die vom »ewigen Spiel niederträchtiger Leidenschaften« bestimmt wird, deren Mitglieder »ihr ganzes Leben im Sitzen verschlafen«, ja »Leichname« sind. Ilja, der nicht wie die »Anderen« sein will, stellt Andrej die Frage: »Wo bleibt da der Mensch? Wo seine Ganzheitlichkeit?« Damit bringt er Gontscharows Sehnsucht nach dem »ganzen Menschen« zum Ausdruck. Der Autor klagt nicht den sensiblen und zärtlichen Oblomow an, der von einem »Leben als Poesie« träumt, vor der fordernden Liebe Olga Iljinskajas zurückschreckt und sich in die Obhut der Beamtenwitwe Pschenizyna begibt, er verurteilt die ansteckende Malaise der allgemeinen Oblomowerei. Der rigorose Andrej Stolz definiert mit diesem Begriff das Leben des Freundes, obwohl er sich eingestehen muss, dass es in ihm kein einziges »gequältes Gesicht« gibt, keine »Börse, Aktien, Empfänge beim Minister nach Rängen oder Gehaltszulagen«, und alle Gespräche »einem ans Herz gehen«.
Durchaus zu nüchterner Selbstanalyse fähig, betrachtet Ilja sein Leben als einen andauernden Prozess des Erlöschens. Der beginne »beim Schreiben der Papiere in der Kanzlei«, setze sich fort beim Lesen von Wahrheiten, mit denen im Alltag nichts anzufangen ist, bei leeren Freund- und Liebschaften, trägem Flanieren über den Newski-Prospekt, hohler Lebensart. Oblomowerei - Ilja erscheint das Wort wie das Menetekel beim Gastmahl des Belsazar. Was sollte er tun? »Vorwärtsschreiten oder bleiben, wo er war? Diese Oblomow-Frage war ihm wichtiger als die des Hamlet.« Vorwärtsschreiten würde bedeuten, den Chalat »nicht nur von den Schultern, sondern auch von der Seele und vom Verstand abzuwerfen«. Ilja strengt alle Kräfte an, um diesen Schritt zu gehen, doch er schafft es nicht. Ist er deswegen ein »überflüssiger Mensch«?
Ohne Zweifel, die Oblomowerei war ein gesellschaftliches Phänomen, das der Literaturkritiker Dobroljubow in seinem Aufsatz von 1859 zu Recht mit der Frage nach dem Schicksal Russlands verband. Doch Ilja Oblomow ist nicht der »widerliche« Typ, den der Kritiker verdammt, obwohl er die »außerordentlich feine und tiefe psychische Analyse, die den ganzen Roman … durchdringt«, anerkennen muss. Heute spüren wir mehr denn je, dass es Gontscharow um den Menschen ging, das Opfer der Oblomowerei.
Seit 1868 wurde der Roman in Deutschland jetzt zum achten Mal übersetzt. Die Versionen von Reinhold von Walther (1925) und Josef Hahn (1960) sind noch immer auf dem Markt. Vera Bischitzky, die 2009 schon eine großartige Neufassung von Nikolai Gogols »Toten Seelen« vorgelegt hat, schuf jetzt für den Hanser Verlag eine dem Original adäquate Fassung des »Oblomow«. Sie hat nicht nur zahlreiche Fehler und Ungereimtheiten der früheren Übertragungen beseitigt, es ist ihr hervorragend gelungen, die Balance zwischen philologischer Genauigkeit und literarischer Qualität zu halten und die sprachliche Gestalt des Originals, den Stil des Autors und den Tonfall des Erzählers, den Sprachwitz und die feine Ironie zu bewahren. Es lohnt sich auch, ihre kleine Abhandlung zu Übersetzungsproblemen und die klugen Anmerkungen zu lesen. Das Resultat ihrer Mühen ist ein völlig entstaubter, ganz heutiger »Oblomow«.
Iwan Gontscharow wurde am 18. Juni 1812 in Simbirsk (seit 1924 Uljanowsk) in einer Kaufmannsfamilie geboren. Mit den Romanen »Eine gewöhnliche Geschichte« (1847), »Oblomow« (1859) und »Die Schlucht« (1869) wurde er zu einem herausragenden Vertreter des russischen Realismus.
Iwan Gontscharow: Oblomow. Roman in vier Teilen. Herausgegeben und übersetzt von Vera Bischitzky. C. Hanser. 840 S., geb., 34,90 €.
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